Dienstag, 23. November 2010

Zwischen Pontius und Pilates

Nun sagt man, ein Indianer und ein starker Rücken kennten keinen Schmerz. Diese Erkenntnis allerdings mag aus einer Zeit stammen, in der hinterlistige Spätsommerböen einem noch nicht das Rigg aus der Hand zu reißen trachteten. Und sie sich – hält man denn dagegen – statt am Rigg eben an der Schulter- und Rückenmuskulatur des Haltenden schadlos halten. Zumindest dem Gefühl nach so gar nicht ohne Schaden. An der Schwelle zur Körperlichkeit können Gefühle zuweilen wahrlich hinderlich sein. Zumal, wenn man versucht, gerade wieder hoch zu kommen. Auf das Brett. Wasser kann im Frühherbst nämlich schon recht kühl sein.

Meiner Schulter ist diese freche Böe recht gut im Gedächtnis geblieben. Schultern können bei so etwas sehr, sehr nachtragend sein. Nach einigen Tagen und Wochen, in denen meine Körperhaltungen auf der Suche nach schmerzfreien Positionen mehrfach Fragen meiner Mitmenschen nach besonderen Formen des Yoga am Arbeitsplatz, Tai Chi beim Einkaufen oder dem Verlauf der Rekonvaleszens nach dem augenscheinlich so argen Motorradunfall provoziert hatten, war es also an der Zeit, medizinisch fachkundigen Rat einzuholen. Oder besser: gleich praktische Hilfe. Schon sprachlich lag es da nahe, mich in erster Instanz an einen Chiropraktiker zu wenden.

Nach kurz und schmerzvoller Untersuchung kam er dann auch gleich zu praktischen Ergebnissen: auch ihm ging es darum, etwas zu wenden. In diesem Fall meinen Oberarm, und das sowohl spontan als auch in recht unerwarteter Richtung. Unerwartet folglich auch die Wendung, welche die Dinge dann nahmen. Wer kennt ihn nicht, diesen netten, kleinen Reflex an der Patellarsehne, der, ausgelöst durch ein putziges Gummihämmerchen, lustige Zuckungen im Bein verursacht. Es gibt jedoch auch diese anderen Reflexe, die komplexere Bewegungsabläufe nach sich ziehen. Wie zum Beispiel eine spontane Ausstreckbewegung des linken Armes mit halber, schwunghafter Drehung des Oberkörpers, welche die wachstumsbedingt am Ende des Arms befestigte und reflexbedingt zur Faust geballte Hand annähernd mit Schallgeschwindigkeit an das Kinn eines am anderen Arm drehenden Chiropraktikers annähert.

Eine Weile tauschten wir danach in ruhigem Gespräch eine Reihe fundierter Argumente aus. Um ehrliches Verständnis bemüht, sah ich es meinem Gegenüber nach, dass wiederkehrende Worte wie „Strafanzeige“, „Schmerzensgeld“ und „gerichtliche Klärung“ durch die bedrohlich anwachsende, farbenfrohe Schwellung seiner Gesichtsmuskulatur zunehmend nur genuschelt hervorgestoßen wurden. Ich führte hingegen an, dass es sich hier ganz klar um eine zwangsläufige und nicht zu unterdrückende Reaktion meines Körpers gehandelt habe – eben einen Reflex. Dies ließe sich wissenschaftlich allein schon durch die Reproduzierbarkeit des Geschehenen nachweisen. Kooperativ, wie ich nun einmal veranlagt bin, bot ich mich auch bereitwillig an, sofort den Nachweis darüber durch präzise Wiederholung der Abläufe der letzten dreißig Sekunden gleich hier zu erbringen. Er sah davon ab. Und schickte mich stattdessen zu einem befeindeten Orthopäden.

Arztbesuche können mitunter Seltsames bewirken. Ich weiß das und bin darauf gefasst. So wunderte ich mich nur wenig, als mich im Zuge der Behandlung beim Orthopäden Erinnerungen an manch kindlich-idyllischen Fernsehnachmittag geradezu überschwemmten. Auslöser dafür mag das spritzenartige Instrument gewesen sein, mit dem der gute Mann mich augenscheinlich ich die Schulter zu stechen beabsichtigte. Der Moment, in dem ich das letzte Mal ein vergleichbares Werkzeug zu Gesicht bekommen hatte, war, als James Harriot es aus seiner Doktortasche nahm, um eine Kuh zu impfen – in der von mir seinerzeit heißgeliebten, englischen Serie „Der Doktor und das liebe Vieh“. Mein schüchtern vorgebrachter Hinweis, in der guten, alten Zeit, in der die Kirche noch etwas zu sagen hatte, seien Menschen, die andere mit Nadeln stechen, gern und öffentlich auf Scheiterhaufen verbrannt worden, schien wenig Eindruck auf ihn zu machen. Mehr Eindruck auf mich hingegen machte die langsam an der Vorderseite meiner Schulter hervortretende Ausbeulung, unter der sich immer deutlicher die Spitze der mir rückwärtig eingerammten Injektionsnadel abzeichnete. An sehr viel mehr Einzelheiten dieser Behandlung erinnere ich mich nicht.

Geweckt wurde ich durch die laut geführte Unterhaltung meiner nächsten Angehörigen, die, um die Liege versammelt, auf der zu weilen ich nach einer Weile festzustellen begann, unvereinbare Meinungen über die Aufteilung meines Erbteils austauschten. Dass ich mich aktiv in diese Auseinandersetzung einzumischen begann, wurde von allen Beteiligten als weniger unterhaltsam empfunden. Wahrscheinlich deshalb kam man überein, mich – zur endgültigen Klärung der Angelegenheit – an einen anderen Orthopäden weiterzureichen.

Dieser Mann war ein Photofetischist. Ich habe seit diesen Tagen eine Menge an Stromkosten gespart, denn die im Zuge der Röntgenaufnahmen von mir absorbierte Radioaktivität versetzt meinen Oberkörper bei Dunkelheit in ein schwaches Glimmen, das als Leselicht für abendliche Bettlektüre vollkommen ausreicht. Wie sehr dieser Mann seinen Beruf liebte, ließ sich leicht daran ablesen, wie seine langen, verklebten Haare im Gleichklang mit seiner Bleischürze herumwirbelten, während er immer wieder die Röntgenkamera in neue Positionen brachte und mich mit Rufen wie „Ja, Baby, streck sie mir entgegen, ja, das ist gut so ... yeah, und jetzt reck Dich ein bisschen, nimm die Arme hoch ... ja, so ... Klasse, Baby, so liebt es die Kamera ... ja, bleib so!“ anfeuerte. Letztens fand ich einige Bilder, die diesen Aufnahmen verdächtig ähnlich sahen, per Zufall auf einer zwielichtigen Internetseite wieder, doch ich hätte per Kreditkarte und unter Beibringung etwa eines Jahresgehaltes den Premium-Zugang kaufen müssen, um das anhand einer vergrößerten Ansicht genauer prüfen zu können. Es ist erschreckend, zu welchen Verzweiflungstaten sich Ärzte angesichts der immer weiter fortschreitenden Reform des Gesundheitswesens hinreißen lassen müssen.

Der nächste Orthopäde verordnete mir Fango, der übernächste Eispackungen. Ich sollte meine Schulter wahlweise durch Eingipsung in den absoluten Ruhezustand versetzen oder mich noch diesen Nachmittag bei einem Ruderclub anmelden. Ein echtes Highlight hingegen war der irgendwann von irgendwem verordnete Besuch bei der Krankengymnastik.

Gut, ich hätte vielleicht eher Verdacht schöpfen sollen, als ich die Wendeltreppe in den Behandlungskeller hinabstieg. Holzfackeln warfen wirre Schatten auf die dunklen Mauern und Moder lag in der Luft. Doch da war das schwere Eichentor hinter mir schon mit angemessenem Knarren in sein schweres Schloß gefallen. Außerdem fand ich die mir zugeteilte Physiotherapeutin eigentlich ganz adrett, auch wenn mich die hohen Absätze ihrer Stiefel und die ab und zu unter dem weißen Behandlungskittel hervorblitzende Ledercorsage weiter misstrauisch stimmten. Das Klicken der Metallschellen, mit denen sie mich an der Wand des Behandlungszimmers ankettete, ging freundlicherweise in den Schreien unter, die aus den Nebenräumen herüberdrangen. Verträumt schaute ich in das sanfte Kohlenfeuer, in dem die glühenden Eisen vorbereitet wurden – offenbar für die verordnete Wärmebehandlung – und fragte mich noch, wie hoch wohl der zuzuzahlende Eigenanteil hinsichtlich der Rezeptgebühr ausfallen würde. Als ihrerseits meine Physiotherapeutin begann, ausfallend zu werden. Ich werde diese ausgefallene Behandlung nicht so schnell vergessen. Auch, wenn ich die anderen fünf auf dem Rezept vermerkten Termine dann doch lieber habe ausfallen lassen.

Gerettet hat mich schließlich der von irgendeiner Stelle an irgendeinem Punkt irgendeiner Behandlung geäußerte, dringliche Vorschlag, ich solle doch ein Fitness-Studio besuchen. Das habe ich dann auch getan. Dort haben sie am Eingang diese sich automatisch öffnenden Glastüren – von der Sorte, die mich so gern zu ignorieren pflegt. Mit voller Wucht ihrer mechanischen Gewalt traf mich eine dieser Türen, die plötzlich meinte sich schließen zu müssen, als ich mitten beim Hindurchgehen war. Natürlich genau an der Schulter. Und muss dabei anscheinend irgendetwas wieder eingerenkt haben. Man mag also von der modernen Schulmedizin halten, was man mag – geholfen hat sie am Ende ja schließlich. Schließlich im wahrsten Sinne des Wortes. Und das ist es doch, was zählt, oder?

Wird sich unser Held nun gleich wieder – allen drohenden Herbststürmen trotzend - aufs Brett wagen? Oder konnte seine Physiotherapeutin ihm dann doch ein gänzlich anderes Konzept der Freizeitgestaltung nahebringen? Wir werden es nie erfahren. Schließlich. Sind wir viel zu sehr damit beschäftigt, unsere Zeit in Wartezimmern totzuschlagen ...


(c) 2010 verkomlizissimus

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