Mit der Anzeige meines Thermometers auf dem Balkon laufen dieser Tage meine Sehnsüchte nach Orten fern von hier um die Wette. Deutlich tritt meine Zuneigung zu den sogenannten „Zwischenjahreszeiten“ hervor, stellt sich im Bad neben mir vor den Spiegel und lacht höhnend über die kleinen Wassertröpfchen, die trotz eben absolvierter, kalter Dusche schon wieder frisch aus meiner Stirn quellen – und leider nicht nur aus dieser. Mich überkommt eine unbestimmte Sehnsucht nach dem wohligen Gefühl, sich an einem frischen Morgen einen Rollkragenpullover über den Kopf zu streichen und die Luft, die einen vor der Tür empfängt, schelmisch „ein bisschen schneidend, hm?“ zu nennen und zu necken. Island kommt mir in den Sinn.
Ich freue mich daran, wenn ich eine Idee habe, die ich für richtig gut halte. Vergnügt stöbere ich in Bildbänden, in den Blogs verschrobener Menschen, die Island schon bereist haben und der Postkartensammlung gehässiger Menschen, die meinten mir schreiben zu müssen, dass es ihnen gerade so sehr viel besser geht als mir. Aber mir geht es gut. Verliebt streichle ich meinen Rollkragenpullover, als ich ihn in den Koffer lege und rufe meine Freundin an.
Es macht mich immer ein bisschen betroffen zu erkennen, dass Menschen, die mir gefühlt nahe stehen, sich nicht für die Dinge begeistern können, für die ich mich begeistere. Wie zum Beispiel die subtile Schönheit blühender Moosflechten. Die engen Grenzen des Wahrnehmungsvermögens mancher Menschen haben die Sinne eben auf lautere Eindrücke eingestellt. Sie schwärmen von Oleander oder Hibiskusblüten und träumen davon, durch eine herabstürzende Kokosnuss erschlagen zu werden. Ich selbst habe dereinst ein vergleichbares Attentat einer überreifen Orange auf Lefkosias Straßen (empörend: im öffentlichen Raum!) nur knapp und mit klebrigen Haaren überlebt.
Kenia. Mich stört, wie definitiv sich dieses Wort aussprechen lässt. Wenn sie „diesen gewissen Blick“ aufgesetzt hat. Den man auch durchs Telefon spüren kann. Und der sagt: wenn du jetzt nicht schweigst und eine Weile einfach zuhörst, wird dich dieser Moment gerade über die nächsten zwei Jahrzehnte verfolgen. Ganz unabhängig vom weiteren Verlauf der Partnerschaft. Ich schweige. Und höre zu. Wie sie von Palmen spricht, von zauberhaften Blüten und exotischen Speisen, gepflegten Poolanlagen und aufregenden Abstechern in die berauschende Wildnis des Binnenlandes. Sie spricht vom Kreuz des Südens und von Sindbad, dem Seefahrer.
Schüchtern weise ich darauf hin, um wie vieles romantischer es doch wäre, sich bei vier Grad Außentemperatur im Schlafsack eng aneinander zu kuscheln statt schweißgebadet in pazifischer Sommernacht in Panik zu geraten, sobald ein Mensch die kritische Dreißigzentimeter-Nähegrenze zu durchbrechen droht. Eine Grenze, die insbesondere durch Myriaden blutrünstiger Kleintiere permanent ignoriert wird. Überhaupt: Insekten. Ich suche Hilfe bei Sir David Attenborough; sammle in der Videothek die aufsehenerregensten Dokumentationen über die Mikrofauna Afrikas sowie die Geißel durch Biss und Stich übertragener Infektionskrankheiten und schummle heimlich noch die DVD "Hundert spektakuläre Safariunfälle" ins Abspielgerät. Das Cover ziert ein Löwe, der leicht gelangweilt eine unvorsichtige Touristin verspeist. Auf der Rückseite sind in Nahaufnahme ein entzündeter Schlangenbiss und ein durch Nashörner, Elefanten oder größeres Ungetier zertrümmertes Geländefahrzeug mit Aussichtsplattform zu sehen. Die wildesten Tiere, die einem in Island so über den Weg laufen können, sind, glaube ich, Schafe.
Es ist wahrlich nicht so, dass ich Abenteuern gegenüber wirklich abgeneigt wäre. Islands Mangel an ausgebauten Straßen, die Abwesenheit jeglicher Hilfestellung in Überlebensfragen durch die umgebende Natur sowie die Gewissheit, in entscheidenden Momenten mindestens vierhundert Kilometer von der nächsten menschlichen Seele (oder auch nur einem funktionierenden Mobiltelefonetz) entfernt zu sein - das ist für mich ein erstzunehmender Kontrast zu einem kuschligen Filmeabend mit Eiskrem aus der Packung und Erdnussflips. Ich verweise gern darauf, dass mein Leben an sich schon recht aufregender Natur ist und mich ohnehin immer wieder in alle möglichen und unmöglichen Ecken dieser Welt führt - nur eben nicht in die wirklich naturbelassenen. Doch ich dringe nicht durch. Gegenüber Katalogbildern mit Pools, Palmen und adretten Surflehrern werden männliche Bedürfnislagen und andere, vernünftige Argumente schlichtweg gegenstandslos. Zumal, wenn auch noch die beste Freundin davon berichtet hat, wie wunderschön es dort doch ist. Sie war natürlich schon da. Ich erinnere mich, sie hatte eine Postkarte geschrieben. Und schwärmt noch heute vor allem davon, „wie superfreundlich doch die Menschen dort ...“.
Ich kenne die beste Freundin meiner Freundin gut. Ich habe einen Verdacht, worauf diese besondere Freundlichkeit der Menschen dort unten in ihrem Fall beruht. Und warum sie immer noch Post von dort bekommt. Aber ich schiebe diesen Gedanken beiseite und lege spektakuläre Bilder kalbender Eisberge über die Kenia-Prospekte, mit denen meine Freundin meinen gesamten Schreibtisch tapeziert hat. Unter einem Wasserstrudel, mutmaße ich, könnte sich ein abtauchender Wal verbergen. Ich versuche, ihre Aufmerksamkeit auf diese Stelle des Fotos zu lenken. Aber diese Aufmerksamkeit ist gerade vollständig von der DVD gefangen, die ich eingelegt hatte. „Schau doch nur, wie schön es dort ist ... diese Natur ... diese Landschaft ...“ Der Löwe, der im Vordergrund am abgetrennten Bein einer Touristin nagt, ist ihrer Wahrnehmung ebenso gnädig wie vollständig entgangen. Ich ärgere mich über meine Naivität in der Einschätzung der Drehrichtung eines Universums, das vom festen Willen einer Frau bestimmt wird. „Schau, auf dem Kilimandscharo liegt sogar Schnee, ganz nordisch karg, wie für dich bestellt ...“
Resigniert schleiche ich zu meinem Koffer und nehme Rollkragenpullover und Wollsocken heraus; ersetze sie durch Sonnenmilch (ist das nicht ein inspirierend schönes Wort?), Impfpass und Blutplasma. Ich versuche mich mit der Aussicht auf wunderschöne Tanzmasken zu trösten und krame zusammen, was sich in den Niederungen meines Erinnerungsvermögens zu dieser Gegend Ostafrikas an Material finden lässt. Doch viel weiter als bis zu „Bernies Autobahn-Band“ komme ich nicht: „Dein Land ist das Rheinland, Willi, da ist es gemütlich – Afrika ist so verschieden, Willi – und so weit südlich ...“
Einen Augenblick lang bin ich froh, dass ich in Hamburg wohne. Und das aus Überzeugung. Dabei besuchte ich einst in meiner pubertären Sturm- und Drangphase eine verfemte Großtante in Bottrop-Kirchhellen (ja, ich weiß, dass das nicht zum Rheinland gehört, alles ist gut, wieder hinsetzen, weiterlesen). Ich erinnere mich, wie ich dort - wahrscheinlich begünstigt von übermäßiger Anreicherung der Atmosphäre durch Emissionen aus Kohle-, Stahl- und chemieverarbeitender Industrie – die vielleicht schönstfarbigen Sonnenuntergänge meines Lebens sah. Ich stelle mir vor, dass diese sich in ihrer Vielschichtigkeit und Pracht ganz sicher mit den so hoch gelobten Abendhimmelsfeuern auf Bali messen lassen können. Dort bin ich auch noch nicht gewesen. Muss ich ja vielleicht auch nicht. Es sei denn, die beste Freundin meiner Freundin schmiedet neue Reisepläne ...
Wie wird unser Held die Afrikareise verkraften? Und wie den Umstand, dass er doch eigentlich nur eine virtuelle Freundin hat? Wir werden es nie erfahren. Und wenn doch, dann in Legenden. Und die natürlich auf Kisuaheli gesungen. Jambo, Jambo Bwana ...
(c) 2010 verkomplizissimus
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