Dienstag, 29. März 2011

Es gibt für alles eine App

Ich gebe zu, ich habe immer ein wenig Angst vor diesem Tag gehabt. Vor dem Tag, an dem ich eine U-Bahn oder einen Bus betrete und junge Menschen aufspringen, um mir ihren Platz anzubieten. Dieses war der Tag, für den ich mir versprochen hatte, mein biologisches Alter nicht mehr zu sehr und zu deutlich vor mir selbst zu verleugnen. Mittlerweile weiss ich, dass dieser Tag niemals kommen wird. Dafür sind die jungen Menschen von heute einfach viel zu wenig erzogen.

Eigentlich, so sollte man denken, wäre dies nun ein wahrer Grund zur Freude. Der unwiderlegbare  Beweis körperlicher Endlichkeit bliebe aus; diese Grenze würde nie überschritten. Doch wäre die Jugend nicht die Jugend, hätte sie nicht längst viel perfidere Wege eingeschlagen, mir mit Nachdruck vor Augen zu führen, wie schrecklich alt das Eisen ist, zu dem ich mich offensichtlich zugehörig zu fühlen habe.

Nehmen wir diese weitunterzwölfjährigen Schulmädchen, die nicht nur das vorstehende Adjektiv in reformistischem Rechtschreibwahn auseinander geschrieben hätten, sondern die in öffentlichen Verkehrsmitteln mit traumwandlerischer Selbstsicherheit technische Geräte bedienen, welche in den Science Fiction-Serien meiner Jugend allenthalben weit überlegenen, extraterristrischen Intelligenzen zugebilligt worden wären. Mein technisches Grundverständnis scheint sich eher auf  Relikte aus einer Zeit zu beschränken, in der es noch Menschen auf diesem Planeten gab, die dem vorstehenden Satz schon beim ersten Lesen folgen konnten und die sich noch darauf verstanden, einen Radioapparat zu bedienen, der nicht in die Bedienungselemente eines Kraftfahrzeuges integriert war oder bei dem es sich ohnehin nur um ein Gadget auf einer Internetseite, einem mikroskopisch kleinen Abspielgerät für widerrechtlich angeeignete Musikdateien oder eine App im virtuellen Baukasten eines Gerätes befindet, dessen neuentdeckter Zusatznutzen angeblich darin bestehen soll, dass man sich über weite Distanzen mit Menschen unterhalten kann, die man nicht sieht.

Heute - schreibt man kürzer. Kleine, kurze Sätze. Da werden dem Mitteilungsdrang eben enge Grenzen gesetzt. Wie etwa 140 verfügbare Zeichen. Oder der Eigenwille einer Qwertz-Tastatur. Wie sie sich verändert. Dadurch. Nicht die Tastatur; die Welt. Thomas Manns Erzählungen  gibt es als Comic-Version zu kaufen. Warum auch nicht? Der Mensch gehe mit der Zeit. Schließlich gehe ich ja auch. Gehen wir ja alle. Mit der Zeit.

Ich will ja jetzt und hier gern und offenkundig gestehen, dass ich diesen Text gerade auf meinem Telephon schreibe. In der Bahn. Und im Stehen, wie ich dezent anmerken möchte. Also sozusagen in dokumentiert jugendlicher Frische.

Und die ist auch angezeigt, schließlich hat die linke, interessantere der beiden Freundinnen auf der Sitzbank dort drüben mich jetzt schon beinahe zweimal angelächelt. Eifrig schreibe ich weiter. Vielleicht mag sie ja Männer, die mit ernster Miene in der Bahn ihre wichtigen Gedanken zu ... nein, eben nicht mehr zu Papier, sondern zu Telephon bringen. Auch, wenn sich das seltsam liest oder anhört. Und - für nur eine Nachricht tippe ich jetzt, malerisch um die Haltestange gewunden, sichtlich und deutlich zu lang. Vielleicht mag sie ja auch Männer, die Geschichten schreiben und wir können nachher noch einen Kaffee oder ein Schlückchen Wein zusammen trinken. Dann könnten die Dinge gar sogar noch eine lyrische Wendung nehmen ...

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie kurz ihr Telephon auf mich richtet. Es macht ein klickendes Geräusch. Halt. Moment mal. Wir kennen uns doch gar nicht. Was fällt ihr ein etwas zu tun, was ich allenfalls noch den Nichtmalzwölfjährigen von weiter hinten und heute früher zugetraut hätte. Und es kommt noch schlimmer. Viel schlimmer. Denn immer wieder beugt sie sich jetzt mit ihrer Freundin über das Telephondisplay und: kichert. Beide kichern. In dieser nichtganzzwölfjährigen Art.

Ich tue, als bemerkte ich es nicht und überprüfe unauffällig den ordnungsgemäßen Zustand meiner Oberbekleidung sowie sämtlicher Knöpfe und Reißverschlüsse. Immer wieder dieses Kichern. Ich blicke auf und unsere Blicke treffen sich. Tatsächlich, sie schlägt kurz die Augen nieder. Und sie lächelt. Zumindest, bis sie erneut vom Giggeln ihrer Freundin angesteckt wird. In meinem Kopf rotiert es. Meine Knie werden ein wenig weich.

Ob sie eine dieser Applikationen auf ihrem Telephon installiert hat, vor denen ich in nächtlichen Werbespots immer wieder gewarnt werde? Vielleicht eine, die anhand meiner Silhouette die entsprechende Abweichung zum Body Mass Index ermittelt? Und sie kichern jetzt, weil das Display zu klein ist, um den ermittelten Wert ohne scrollen zu müssen anzuzeigen? Oder ... ist es gar einer dieser Nacktscanner, der mit Röntgenblick die intimeren Geheimnisse meiner Unterwäscheauswahl an den Tag - oder vielmehr: auf das Display der hübschen Dame bringt? Moment ... trage ich eigentlich gerade Unterwäsche?

Gerade noch rechtzeitig fällt mir ein, dass ich zum einen längst aus dem Alter heraus bin, in dem ich keine Unterwäsche getragen habe und dass es sich ja bei diesen Telephonanwendungen um einen ausgewiesenen Schwindel handelt. Der sich dann im Kleingedruckten als "Fun-App" herausredet. So zumindest beschwerte sich ingrimmig ein alter Freud bei mir. Und hörte damit erst auf, als er meinem Blick wohl zu deutlich die Frage entnahm, was ich denn so von Menschen halten solle, die sich dererlei Applikationen für echtes Geld herunterladen. Und das dann meist auch gleich noch im Abo. Erst die Sicherheitskontrolle am heimischen Hamburger Flughafen hat mich wieder nachdenklicher gemacht. Aber dort muss man immerhin noch ganz in das Gerät steigen und kann nichts Kleingedrucktes mehr lesen, da man zuvor die Brille abnehmen musste. Telephone sind da übrigens auch verboten.

Ich fühle mich entblößt und verunsichert. Welche geheimnisvolle Anwendung steckt hinter diesem Gekicher? Habe ich irgendwelche neuen Trends der letzten CeBIT zu wenig beachtet? Die Science Fiction-Serien meiner Jugend schießen mir durch den Sinn. Droht mir eine spontane Entmaterialisierung? Oder wird meine Kleidung im nächsten Augenblick in ein zartrosanes Tutu umgewandelt? Wer aus der geschätzten Leserschaft auch immer mich kennen und schon einmal in einem rosa Tutu gesehen hat, mag nachempfinden können, was ich in diesem Augenblick fühlte.

Erlöst wurde ich durch die aussteigende Freundin der Dame, die mir im Vorübergehen aufmunternd zulächelte. Mein biblisches Alter kaschierend huschte ich flugs und elfengleich auf den freigewordenen Sitzplatz neben der Telephondame. Ich mag es, wenn Frauen auch heute noch zart erröten können. Jedenfalls mag ich das mehr als zartrosane Tutus in nicht angemessenem Kontext.

Ein klein wenig federleichte Konversation reichte aus herauszubekommen, dass nicht ich Ziel der fotographischen Attacke war, sondern das schräg über mir angebrachte Werbeplakat. Wer dies aufnehme und per MMS an die angegebene Nummer schicke, so das darauf lesbare Versprechen, erhalte im Gegenzug eine gute Idee. Und Gegenstand dieser Idee war, so die Antwort des freundlichen Werbecomputers, jetzt sofort einen Kaffee zu trinken. Ich liebe diese moderne Technologie. Und danke Starbucks für rechtzeitiges und zielgenaues Anbringen von Werbeträgern.

Wir haben dann doch auch noch einen Wein zusammen getrunken. Und herausgefunden, dass sie in der Tat Männer mag, die im Zuge langer Bahnfahrten seltsame Geschichten in ihr Smartphone tippen. Sie hat mir dann sogar noch ihre Telephonnummer gegeben. Und die Webadresse ihres Blogs. Und den Link auf ihr Facebookprofil. Und das bei myspace. Und bei Studi-VZ, den Lokalisten und bei friendscout24. Seit dem überlege ich, ob ich ihr auf wordpress.com einen Kommentar hinterlasse, sie bei xing.com oder doch lieber bei linkedIN adden oder sie einfach bei Twitter faven soll. Und ob ich mich diesem Grad an Vernetzung überhaupt noch gewachsen fühle. Für welchen Kanal ich mich auch immer entscheide, ich werde dafür wohl doch wieder mein Telephon benutzen.


Wird unser Held die horrenden Verbindungskosten seiner Zukunft verkraften können? Oder wird ihn eine spontanphysische Beschädigung seiner SIM-Karte in vollkommene Isolation treiben? Wir werden es nie erfahren. Denn wir fahren seit dem eigentlich nur noch mit Bus und Bahn, ständig auf der Suche nach Kaffeewerbung ...

(c) 2011 verkomplizissimus