Dienstag, 23. November 2010

Ihr persönliches Banner-Orakel

Kann mir mal wer sagen, warum Google mich ständig mit „Urinale ohne Wasser“ zuwirbt? Ich habe nie über Urinale ohne Wasser geschrieben, noch hat mir jemals jemand etwas über Urinieren gemailt noch habe ich zuvor überhaupt einmal daran gedacht – naja, okay, aber eben immer mit Wasser. Das gilt es ja schließlich abzuschlagen. Und wenn ich „Urinal“ mit „Abchlagen“ kombiniere, mag es in der Tat Vorteile mit sich bringen, wenn jene eben kein Wasser mit sich bringen. Lieber aber würde ich diese Google-Adds aus meinem Bildschirm schlagen. Sie beleidigen mich.

Mit den tagesdurchschnittlichen siebenunddreißg Spam-Mails in meinem Posteingangskorb kann ich leben. Zuweilen drucke ich sie aus und stopfe damit Löcher in meinen undichten Fensterrahmen. Hätte ich allen in diesen Mails enthaltenen Aufforderungen Folge geleistet, würde ich ob meiner alles überragenden Männlichkeit durch keine Tür mehr passen. Geschweige denn, ein Urinal nutzen können. Ob nun mit oder ohne Wasser. Aber diese Mails empfinde ich als unvermeidliche Streifschüsse des Schrotfeuers an der Medienfront. Selber Schuld, wenn ich mich dorthin begebe; getroffen zu werden ist unvermeidlich und akzeptabel.

Diese Google-Adds aber ... die nehmen für sich in Anspruch, mich als eingegrenzte, ausgewählte, eingeschränkte Zielgruppe – also mich, mich ganz persönlich anzusprechen. Schließlich werden sorgfältig meine Mails gelesen, meine Nachrichten durchforstet, meine Profile gescannt. Dafür setzte ich fast täglich Häkchen in kleine Kästchen unter Nutzungsbedingungen telephonbuchepischer Länge. Und Breite. Von der Höhe ganz zu schweigen. Doch bevor ich hier in die Tiefe gehe, gehe ich lieber an die Decke.

Reduzieren sie ihr Gewicht in sieben Tagen um fünf Kilo. Davon abgesehen, dass mich diese Aufforderung vor eine nicht ohne Taschenrechner lösbare Aufgabe stellt. Weil mich natürlich sofort der Drang beseelt, meinen täglichen Verlust zunächst zu er- und dann über die gesamte Dauer einer potentiellen Anwendung hochzurechnen. Doch schließlich stolpere ich ein wenig: über das „ihr“. Sollte man das in der Anredeform nicht groß schreiben? Oder wessen Gewicht soll ich hier reduzieren? Steckt dahinter am Ende doch ein Werbeinhalt, der in Konkurrenz zu all den Spam-Mails treten möchte?

Kritisch durchflöhe ich mein Profil. Nein, ich habe hier weder Körpergröße noch Gewichts- noch sonstige Maße hinterlegt. Auch das von mir gewählte Profilbild lässt eher Rückschlüsse auf meinen Geisteszustand als darauf zu, dass ich hier einer eingegrenzten Zielgruppe zuzuordnen wäre. Ich fühle mich ertappt.

Ich will offen sein. Eingehende Spiegelstudien in Badezimmern und an Zeitungskiosken legen mir die gnadenlose Erkenntnis nahe, dass es mir für mein Körpergewicht drastisch an Größe mangelt. Das lässt sich ohne Weiteres auch nicht mit ein paar Ratschlägen aus Spam-Mails korrigieren. Ich stehe oft genug davor, um nicht irgendwo auch dazu zu stehen. Eher schamhaft als stolz, aber ich will und kann davor nicht die Augen verschließen. Auch wenn sie sich momentan zu kleinen Schlitzen verengen. Woher wissen die das?

Ich erinnere mich an die letzte Situation, in der ich vor dieser Frage stand. Ich war auf dem Weg aus einer unbedeutenden Hauptstadt eines kleinen Landes in eine noch viel unbedeutendere Kleingroßstadt in meinem Heimatland. Für diese Routen werden kleinere, propellerbetriebene Fluggeräte eingesetzt, die Reisen noch zu echten Abenteuern machen. So hatte ich Platz genommen, fieberte dem Start und dem ersten, mir dargereichten Kaffee entgegen. Als ein kleines, gelbbejacktes Männchen zettelwedelnd über die Rollbahn und die abfahrbereite Gangway hinauf gelaufen kam, um in der Tür etwas mit der Stewardess zu betuscheln. Diese dann zu meinem Platz kam, etwas von Flugstatik nuschelte und mich freundlich, aber bestimmt aufforderte, meinen Sitzplatz vorne links gegen einen hinten rechts einzutauschen. Im schummrigen Abendlicht mögen die anderen Fluggäste die Verfärbung meines Gesichtes während des für diesen kleinen Flieger unerwartet langen Ganges zu den hinteren Reihen der strahlendschönen Abendsonne zugeschrieben haben. Ich halte mich an dieser Vorstellung fest. Und weil ich ein netter Mensch bin, verzichte ich darauf, den Namen der Airline zu nennen. Nicht jedoch den Umstand, dass ich seit diesem Vorkommnis sorgfältig die Bodenbeschaffenheit vor den automatischen Check-In-Stationen an den Flughäfen prüfe, nach verborgenen Waagen suche und mich frage, was um alles in der Welt die eigentlich in meinem Vielfliegerprofil so alles über mich gespeichert haben.

Liebe ab 30, tönt es mir gerade entgegen. Das erinnert mich an die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt und meine bange Unsicherheit aus Vortagen, ob es denn nach vierzig überhaupt noch Spaß machen könnte. Stattgegeben, dieser Schluss war einfach; eine triviale Kombination aus Geburtsdatum und Beziehungsstatus. Über den dabei unterlaufenen, geringfügigen Rechenfehler sehe ich geschmeichelt hinweg. Was jedoch will mir die Botschaft „Raus aus der Schuldenfalle“ sagen? Diese Werbung macht mir Angst. Und beschert mir einen nächtlichen, frischluftigen, nervösen und schließlich doch noch beruhigenden Spaziergang zum Kontoauszugsdrucker. Denn Online-Banking lehne ich ab. Wer weiß, was für Werbung ich sonst noch so auf meinen Seiten sehen würde.

Es gibt Menschen, die lesen jeden Tag ihr Horoskop in der Tageszeitung. Meinen Tag bestimmt das Banner-Orakel. Was ist die erste, zielgerichtete Botschaft des Tages, die mich auf diesem Weg erreicht? Ich lerne viel über mich, auf diesem Weg. Was ich daraus über die Zukunft lerne ... darüber mag ich im Augenblick gar nicht so recht nachdenken.

Wir wissen nicht, was Ihnen das Banner-Orakel an diesem schönen Tag bescheren wird. Willst Du es mich wissen lassen? Der schönste Add bekommt einen Keks. Und der, der sich traut, sich als entsprechend ausgemachte Zielgruppe dafür zu outen, meine Hochachtung ...

(c) 2010 verkomplizissimus

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