Sonntag, 31. Juli 2011

Von Jägern und Nestbauern

Die Anthropologie lehrt Unterscheidungen; wie die zwischen Jägern und Sammlern oder zwischen Nomaden und Sesshaften, zum Beispiel. All diesen Unterscheidungen ist die Eindeutigkeit gemeinsam, mit der eine Zuordnung menschlichen Verhaltens möglich ist; Zwischenformen spielen eine nur untergeordnete Übergangsrolle. Es ist nun der Verdienst jüngster Zivilisationstechniken der letzten Jahrzehnte, eine weitere dieser anthropologischen Kategorien hinzugefügt zu haben: Die Unterscheidung zwischen Experten. Und den anderen.

In den guten, alten Tagen des Pleistozän, da man sich auf den Spuren des Mammut oder eines flauschigen Machairodus durch die weiten Steppen bewegte, traf man zuweilen auf den einen und auch den anderen Jäger-Kollegen. Und insofern dieser nicht kleiner und schwächer war, also als Appetithäppchen für Zwischendurch in Frage gekommen wäre, simpelte man gern ein wenig fach, bestaunte wechselseitig die mitgeführten Werkzeuge und diskutierte in der Jagd angewandte Erfolgsmethoden. Bis heute hat sich daran eigentlich nicht viel geändert. Außer vielleicht, dass schwächere Passanten heute in geringerer Anzahl verspeist werden (die Angst vor den Cholesterinen?) und dass solche Treffen nicht in den weiten Fluren eiszeitlicher Steppen, sondern eher an anderen Orten stattfinden. Zum Beispiel in den immerhin auch meist recht ausladenden Fluren von Baumärkten.

War es doch dort, das ich letztens auf meinen guten, alten Bekannten Georg traf. Da ich zum Einen gerade nicht hungrig war und er mich zum Anderen nicht nur um Haupteslänge überragte, sondern auch sonst einen etwas trainierteren Eindruck machte als ich, konnten wir uns schnell dem Inhalt seines Einkaufswagens zuwenden. Tapetenrollen waren dort zu sehen; in bestürzender Vielfalt an Farben, Formen und Mustern. „Du willst renovieren?“ Georg strahlte über das ganze Gesicht. „Ja, vor fast zwei Monaten habe ich sie kennengelernt. Und jetzt wollen wir zusammenziehen.“  Meine  grundsätzlichen Vorbehalte gegenüber der Dauerhaftigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen hintanstellend war es ein anderer Punkt, der mir leichtes Unbehagen bereitete. Ich beschloss, diesen als möglichst unverfängliche Frage zu formulieren: „Und was – zum Teufel – willst Du mit diesen ganzen Nägeln da in Deinem Einkaufswagen anstellen?“ „Nun ja“, so seine Antwort, „irgendwie muss ich die Tapeten ja auch an den Wänden festmachen, oder?“

Geneigte Leserinnen und Leser werden einmütig eingestehen müssen, dass eine so dermaßen offen zur Schau gestellte Unkenntnis bezüglich einfachster Aufgaben im Zuge einer Wohnungsrenovierung kaum eine andere Wahl als die lässt, Sätze wie den folgenden zu sagen: „Kann ich Dich vielleicht ein wenig bei der Planung Deiner Baumaßnahmen beraten?“ Auch, wenn dann fast zwangsläufig eine so unerfreuliche Antwort erfolgt wie: „Klar, wir können jede Hand gebrauchen! Toll, dass Du mit anpacken willst!“

Es war beileibe nicht das erste Mal, dass ich so dermaßen komplett missverstanden wurde. Genauso wenig war es das erste Mal, dass es aus dieser Nummer so absolut gar kein Entrinnen mehr gab. So fügte ich mich denn in mein Schicksal und den Einkäufen Georgs heimlich noch ein paar Päckchen Tapetenkleister hinzu. Sagte alle für das Wochenende geplanten Blind-Dates ab, verschenkte meine Backstage-Karten für das anstehende „Take That“-Konzert (wird Robbie diesmal halt ohne mich losziehen müssen; er sprach am Telefon ohnehin davon, dass er sich „nicht so fühle“) und verschob meine Segelscheinprüfung auf den nächsten freien Termin im Sommer 2013. Trug den Termin im Kalender ein und kaufte mir geschwind noch ein neues Paar Arbeitshandschuhe.

Dass ich eben diese zuhause vergessen hatte, fiel mir erst auf als ich mich – in aller Herrgottsfrühe und bis zum Abwinken motiviert – vor Georgs neuer Haustür eingefunden hatte. Auf dem Weg hierher hatte ich mir eingeredet, dass es sicherlich nett sei, viele, neue Leute kennen zu lernen. Wie Georgs neue Freundin zum Beispiel, deren bildliche Darstellung auf verschiedenen Profilen sozialer Netzwerke mich durchaus hatte überzeugen können. Vielleicht hatte sie ja auch eine nette Freundin.

Hatte sie. Und mit eben der war sie, wie Georg mir euphorisch mitteilte, gerade unterwegs, um passende Möbel auszusuchen. Durch diesen gewieften Plan hätte er uns die beiden Damen aus dem Weg geschafft, auf dass wir zwei uns zügig und ungestört ganz der handwerklichen Arbeit hingeben könnten. Ich lobte ausschweifend seine Umsicht und hielt auch ansonsten nicht damit hinter dem Berg, wie sehr ich mich jetzt darauf freuen würde, so richtig ranzuklotzen. Er nickte und schlug mir fest mit der Hand auf die Schulter. Draußen begann es zu regnen. Ironie war noch nie wirklich Georgs Stärke gewesen.

Die Arbeiten schritten schnell voran und binnen kurzem war es uns gelungen, die Wohnung, alle in ihr befindlichen Gegenstände und schließlich uns selbst in ein undurchdringliches Spinnennetz aus Malerklebeband und Abdeckfolie zu verwickeln. Georg trug seine Freude darüber, auf so professionelle Weise unterstützt zu werden, offen zur Schau. Sein über das ganze Gesicht ausgebreitete Strahlen knickte auch in dem Augenblick nicht ein, in dem ich – unter Zuhilfenahme einer Klappleiter und handelsüblicher Erdanziehung – einen kleinen Durchbruch in die Wand zwischen werdendem Wohn- und noch schlummerndem Schlafzimmer schuf. Ich wies ihn auf den innenarchitektonischen Pfiff hin, den die doch eher langweilige Wohnung dadurch bekommen würde und beruhigte ihn dahingehend, dass die breite Blutspur, die mein Gesicht beim Fall entlang der Wand hinterlassen hatte, ja gleich übertapeziert würde. Eine Maßnahme übrigens, die meiner Wange und rechten Schläfe sicher auch gut zu Gesicht gestanden hätte.

Ich überließ Georg den Kampf mit dem Tapeziertisch und widmete mich zum einen auf rührende Weise der Kleisterherstellung und zum anderen meinen dunklen Gedanken. Es hatte mich viel Zeit und Überzeugungskraft gekostet, mit Georg übereinzukommen, dass es weder nachhaltig noch klug noch überhaupt denkbar wäre, Tapeten an die Wand zu nageln. Tapeten gehörten geklebt. Und Georg gehörte auch eine geklebt, denn statt sich mannhaft in sein Schicksal zu fügen und in Stille den Tisch aufzubauen, wurden seine Flüche nur durch andauernde Fragen der Art: „Muss ich das jetzt hier einhaken, oder was? Gehört das so? Kannst Du mal schauen?“ unterbrochen.

Ich ließ den Kleister vor sich hin quellen und war gerade dabei, unter den von Georg erworbenen Tapeten die mit dem noch erträglichsten Muster herauszusuchen, als er mit einem abstrakten Kunstwerk unter dem Arm durch die Zimmertür auf mich zu watschelte. Dieses Geflecht sichtlich dekonstruierter Holzflächen und kühner Drahtverwicklungen stellte er in die Mitte des Zimmers auf und nannte es: „Tapeziertisch“. Unter der Wucht des Absetzens nachpendelnd schwang es meditativ auf und ab. Seit Günter Haese fand kinetische Kunst selten so klaren Ausdruck. Doch noch bevor ich etwas in dieser Richtung äußern konnte, tat das Ding einen gewaltigen Satz auf mich zu und schnappte begierig nach der Tapetenrolle, die ich gerade in der Hand hielt. Meine ebenso behände wie reflexartige Ausweichbewegung wurde jäh durch den hinter mir stehenden Kleistereimer gestoppt. Die ungewohnte Nähe meiner Augen zum Boden ließ mich die vielfältigen, geometrischen Muster erkennen, mit denen sich der Kleister durch den langen Riss in der Abdeckfolie hindurch in den Fugen des historischen Parkettbodens verteilte. Über mir stand Georg und bemerkte trocken: „Also – Nägel hätte man jetzt einfach zusammenfegen können ...“

Wenige Stunden nach Einbruch der Dämmerung war es gelungen, sämtliche Wände der Wohnung mit Papier zu bekleiden. Das Spiel gegenläufiger, immer wieder durch Risse und überraschende Wendungen der Tapetenbahnen gebrochene Muster gab der Wohnung etwas Revolutionäres, Psychedelisches. Georgs Zusammenleben mit seiner neuen Freundin würde sicher ein einziger Rausch werden. Sollte sie dieses Mustermosaik aushalten können, war sie vielleicht die richtige für ihn. Die kleine, innovative Durchreiche zum Schlafzimmer hatten wir inzwischen im Übrigen einfach übertapeziert. Doch damit nicht genug: von beiden Seiten her sollte ein Bild jeder Versuchung entgegenwirken, die Haltbarkeit der Mustertapete über dem Loch mit den Fingerspitzen testen zu wollen. Man kennt dieses Prinzip von der praktischen Bläschenfolie, die unwiderstehliche Lust darauf macht, die Bläschen zwischen den Fingern platzen zu lassen. Im Schlafzimmer sollte ein Morandi hängen, für das Wohnzimmer schlug ich (ob des ohnehin schon eher unruhigen Musters) Mondrian oder Miro vor.

Leicht zu erraten, dass Georg schnell mit einem Hammer und seiner Nageltüte bei der Hand war. Mitleidig sah ich ihn an. „Mit Deinen Nägeln kommst Du hier nicht weit. So ein richtiges Bild, das braucht einen Dübel.“ Und ich griff überlegen lächelnd in meine Umhängetasche. Georgs Pupillen weiteten sich. Keine ungewöhnliche Reaktion; ich hatte sie schon manches Mal zuvor erleben können. Denn in meiner Hand hielt ich meine Bohrmaschine. Die heilige Hilti. So nannte ich sie. Denn wir hatten schon viel zusammen erlebt. Und überlebt. Granit, Elektrokabel, Warmwasserleitungen. Kein Material der Welt war der Kraft meiner Bohrmaschine gewachsen gewesen. Ich löste eine sechser Steinbohrspitze aus dem goldbeschlagenen Brokatfutteral. Eingedenk meiner Erfahrungen beim Leitersturz schien mir das angemessen; schließlich wollte ich nur ein kleines Löchlein bohren. Und nicht gleich das Haus niederreißen. Mit sanftem, kompetentem Klicken rastete das Metall im Bohrkopf ein. Der kleine Probelauf erfüllte die Wohnung mit dem gewohnten, gleichmäßig kraftvollen Schnurren des Turbogetriebes. Wäre ich diese Wand gewesen – ich hätte eine Gänsehaut bekommen. Ehrlich gesagt: ich bekam auch ohne diesen Umstand eine. Mit dem gelassenen Lächeln des routinierten Scharfrichters setzte ich beim sorgsam bleistiftgezeichneten Punkt an. Und zog mit Bedacht den Auslöser durch.

Es mag ein Kieselstein gewesen sein. Oder ein verborgener Stahlträger. Ein Bombensplitter aus dem letzten Weltkrieg. Oder dem davor. Wer steckt schon drin, in so einer Wand. Meine Hilti zumindest nicht. Getreu ihrer Natur als Schlagbohrmaschine versetzte sie mir einen heftigen Stoß, der mich nach hinten taumeln ließ, und flog in hohem Bogen aus dem – glücklicherweise geöffneten – Fenster hinaus. Um sich auf dem harten Pflaster des Innenhofes in etwa erbsengroße Einzelteile zu zerlegen. Die mythologisch aufgeladene , stoßartig vorgetragene Unmutsbekundung, die mir daraufhin – in angemessener Lautstärke - entfuhr, war wohl der Grund dafür, dass die Platane im Innenhof spontan sämtliche Blätter verlor, das Rentnerehepaar aus dem dritten Stock gegenüber Hand in Hand aus dem Fenster sprang und der Betreiber der kleinen Sushi-Bar um die Ecke noch am gleichen Abend in aller Form das Seppuku-Ritual vollzog.

Der erste Eindruck soll ja oft der entscheidende sein. Wahrscheinlich bin ich deshalb nie ganz mit Georgs neuer Freundin warm geworden. Versteinert und kreidebleich stand sie im Türrahmen und blickte mich mit einem Ausdruck in den Augen an, der eigentlich eher freilaufenden Säbelzahntigern oder ausgedehnten Buschbränden vorbehalten bleiben sollte. Versöhnt wurde sie jedoch sogleich beim Blick auf Georg, der zwischenzeitlich den heimlich eingeschmuggelten Kunstdruck „Zebegen 1964“ von Victor Vasarely mit Tesafilm an der Wand befestigte. Das Motiv schmiegte sich nahtlos in die umgebenden Muster der Tapete. Sie war hingerissen und fiel ihrem Schatz in die Arme. Die beiden passten wirklich gut zusammen.

Besser gelungen war der erste Eindruck ihrer wirklich netten Freundin, die ihr schwerbepackt nachfolgte, sobald sie den Türrahmen freigegeben hatte. Ich sprang ihr bei, um sie von der Last überquellender Einkaufstüten zu befreien, die folgerichtig unter meinem Zugriff zerrissen und eine Flut unsäglicher Dekoartikel aus Kunstharz und Porzellan über den Flur ergossen. Entschuldigend und verlegen blickte sie mich an. Durch ein Lächeln ließ ich sie erkennen, dass ich niemals auch nur auf den Gedanken gekommen wäre, dass sie es gewesen sei, die diese Dinge ausgesucht hätte. In ihren Augen stand so etwas wie Dankbarkeit. Es stellte sich heraus, dass sie meine Tollpatschigkeit „irgendwie niedlich“ fand und allgemein eher eine Schwäche für Geisteswissenschaftler und Lyriker  statt für handwerklich begabte Männer hegte. Und gemeinsame Außenaktivitäten jedem Einrichten gemeinsamer Wohnungen vorzog. Wir hatten sogar denselben Lieblingsitaliener. Dort gingen wir dann auch alsbald hin. Und überließen Georg samt Freundin dem Glück gemeinsamen Nestbaus. Wir beschlossen, sie in naher Zukunft erst einmal nicht zu besuchen. Sollten sie sich ihrer Neigung für wirre Tapeten- und Beziehungsmuster frei hingeben. Wir bevorzugten andere Formen der Expertise. Denen wir uns jetzt erst einmal ausgiebig hingeben wollten ...

Werden sich die vielen Italienischstunden für unseren Helden jetzt endlich bezahlt machen? Oder lauert doch schon hinter der nächsten Straßenecke ein missgelaunter Mammutbulle? Wir werden es nie erfahren. Denn wir müssen erst einmal unseren Daumen verarzten, den wir beim Tapezieren leider mehr als einmal mit dem Hammer getroffen haben ...


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