Mittwoch, 25. Mai 2011

Objektiv tückisch

Es gibt Tage, an denen fühle ich mich wie der Malermeister am Empfangstresen einer Behörde, den Farbeimer in der Hand und den Hinweis auf den Lippen, man habe ihm ein Schreiben zugesandt und ihn darin klar aufgefordert, Unzutreffendes bitte zu streichen. Wo er denn jetzt damit anfangen könne. Ein geistesgegenwärtiger Empfangschef hätte sich vielleicht schnell der leitenden Etage und meines Lieblingsbefehls in der Programmiersprache "Assembler" erinnert – „Replace leading zeros by blanks“. Und mit einem Blick auf den Eimer weißer Farbe noch ein wenig über die darin versteckte Doppeldeutigkeit sinniert. Aber ich bin kein Programmierer. Auch kein Behördenangestellter. Und das ich selbst handwerklich vollkommen unbegabt bin, bekomme ich gerade durch den kindersicheren Objektivaufsatz meiner neuen Fotokamera deutlich vor Augen geführt.

Anders als dem armen Malermeister, der sicher so umgehend wie –fassend über sein Missverständnis aufgeklärt worden sein mag, wird mir umgekehrt immer klarer, dass die Bezeichnung „Schnappverschluss“ im Herstellerprospekt meiner Kamera viel wörtlicher zu verstehen ist, als ich ursprünglich vermutet hatte. Drei Finger sind schon bandagiert und die Kamera arbeitet weiter gewissenhaft an radikaler Verkürzung der bisher übriggebliebenen. Wahrscheinlich steckt die perfide Strategie des Produktdesigns dahinter, Kunden durch Amputation der Fingerkuppen daran zu hindern, zu viele Beschwerdemails tippen zu können. Oder es handelt sich um einen geschickt getarnten Merchandising-Deal mit der Innung der Unfallchirurgen. Möglicherweise erhalten sie Gratiskameras. Und die dann vielleicht sogar mit Bedienungsanleitungen, die kühn über die Grenzen des Asiatischen Sprachraums hinausschreiten und so wenigstens Schriftzeichen verwenden, die sich zum Zweck einer Übersetzung durch den Internetdienst „Babelfisch“ mit einer herkömmlichen, Europäischen Tastatur eingeben lassen. Auch, wenn dadurch dann vieles einfacher würde.

Dabei macht die Hinterlist internationaler Produktdesigner ja durchaus nicht beim Produkt selber halt. Als bekennender Verpackungslegastheniker verfüge ich über ärztlich bestätigte Verlaufsprotokolle darüber, wie es gelingen kann, sich unter Verwendung einer handelsüblichen Plastikschale voller Scheibenkäse beide Handgelenke zu brechen. Unvorstellbar, dass in einer Welt, in der man durch Aufdrucke auf Pappbechern davor gewarnt wird, der soeben erworbene Inhalt dieses Bechers könnte unter Umständen noch etwas heißer sein als die umgebende Umwelt, solch heimtückische Plastikverschweißungen oder verzwickten Kartonage-Konstruktionen auf den wehrlosen Verbraucher losgelassen werden können.

Menschen, die von Firmen für die Gestaltung dieser Körperverletzungsversuche eingestellt werden, weisen ihre Qualifikation gewiss durch profunde Erfahrungen in Entwurf und Umsetzung von Großwildfallen und diskreten Tötungsmaschinen nach. Ein kleiner Schritt von der Rüstungsindustrie zum Industriedesign. Und ein bekömmlicher, wenn bei Nachbarschaftsparties einmal die unweigerliche Frage „... und was machst Du so beruflich?“ gestellt werden sollte. Wobei das Ansehen von Industrie- und Produktdesignern zunehmend unter Druck gerät. Mein Tipp: Einfach behaupten, man sei Produkt-Tester. Und versuchen, dabei nicht rot zu werden. Sollte die Dame, mit der man gerade spricht, sichtbar Pflaster oder Verbände an den Händen tragen, kann ein solcher Einstieg einen wirklich schmalen Fuß machen. Und gleich sowohl ein Gesprächsthema wie auch gewissermaßen sie selbst an die Hand geben: „Zeigen sie  doch mal ... meine Güte ... diese Verbrecher ... sie Arme, sie ...“

Dummerweise stellen sich die meisten Damen dieses Planeten in technischen und Verpackungs-Angelegenheiten weitaus geschickter an als ich. Was kein Wunder ist; werden sie doch schon von Kindesbeinen an darauf trainiert, kleine Pastikfiguretten in immer neue, bunte Kleider zu hüllen oder spielerisch in mikroskopischen Emiliy-Erdbeer-Pocket-Welten zu versinken. Jungs werden da anders sozialisiert. Im Wesentlichen geht es hier doch in den ersten Jahren darum, Dinge möglichst schnell und effektiv kaputt zu machen. Am besten mit Waffengewalt. Fürchterliche Rache nimmt diese Zerstörungserziehung bei den ersten, zaghaften Versuchen, das Kind durch entzückende Dampfmaschinen oder Chemiebaukästen an die Erkenntnis heranzuführen, dass sich Dinge auch einfach nur betreiben oder konstruieren lassen.

Eingeholt wird man als Mann von dieser weiten Kluft zwischen den Geschlechtern spätestens bei der Konfrontationen mit Finessen reizender Damenunterwäsche. Es gäbe schreckliche Erlebnisse zu berichten, bei denen vor allem die weiter oben getragene Unterbekleidung der Damenwelt eine tragende Rolle spielt. Und die sich darum drehen, eben diesem Tragen entgegenzuwirken. Es braucht schon eine Menge Humor und eine noch größere Menge an Marvin Gaye oder Barry White-Alben, um hier wieder Boden wett zu machen. Oder gleich dort liegen zu bleiben, weil man sich beim Versuch, dieses vermaledeite Kleidungsstück zärtlich zwischen den Schulterblättern zu öffnen, irgendwie den Knöchel am linken Fuß verstaucht hat.

Amerikaner müsste man sein. Dann bliebe einem wenigstens noch der Klageweg als Racheoption gegen die willkürliche Gefährdung der körperlichen und geistigen Gesundheit durch ruchloses Produkt- oder Verpackungsdesign offen. Gerne erinnere ich in diesem Zusammenhang an das legendäre Urteil von 2004 aus Oklahoma City – hier erhielt ein Mann angeblich insgesamt $ 1,75 Mio Schadenersatz und Schmerzensgeld, weil er mit seinem neu erworbenen Wohnmobil verunglückt war. Der vom Hersteller vorgebrachte Einwand, der Fahrer hätte eben trotz eingestelltem Tempomaten auf der Autobahn nicht den Fahrersitz verlassen und sich hinten im Wohnmobil einen Kaffee kochen dürfen, wurde mit Verweis darauf abgeschmettert, ein entsprechender Hinweis ließe sich im Betriebshandbuch des Wagens nicht finden. Fast schade, dass es sich bei dieser legendären Geschichte eben tatsächlich um eine waschechte Urban Legend handelt; doch schön erfunden ist sie alle Mal. Wer wahre Geschichten den schönen vorzieht, dem sei die offizielle Website des jährlich verliehenen Stella-Liebeck-Awards empfohlen (http://www.stellaawards.com/). Und wer dann denken mag: „Hach, glückliches Amerika!“ – der sei daran erinnert, dass im Bundesstaat Arkansas öffentliches Turteln mit bis zu dreißig Tagen Gefängnis bestraft werden kann und in der Stadt San Antonio im Bundesstaat Texas der Gebrauch von Augen und Händen beim Flirten illegal ist. Na, wenn letzteres mal keinen kreativen Ansporn darstellt ...

Eingedenk meiner jüngsten Erfahrungen mit tückischen Objekten und – insbesondere - dem Wechselobjektiv meiner neuen Kamera, wird auch mir in unmittelbarer Zukunft wohl der Gebrauch von Augen und Händen beim Flirten verwehrt bleiben. Dabei. Bräuchte ich doch dringend mal jemanden an meiner Seite, die mir beim Öffnen von Konservendosen und Käseverpackungen zur Hand geht. Ich koche dann auch, versprochen. Mein neuer Gasherd ist idiotensicher. Das steht zumindest so im Prospekt des Herstellers.


Wird unser Held nun nach San Antonio/Texas auswandern, um kreative Flirttechniken zu erlernen? Oder wird er bereits auf dem Weg dorthin vom Check-In-Automaten am Flughafen gemeuchelt? Wir werden es nie erfahren. Denn wir müssen jetzt ganz schnell von hier fort, bevor er noch auf die Idee kommt, seinen neuen Gasherd auszuprobieren ...


(c) 2011 verkomplizissimus

Samstag, 14. Mai 2011

Frühlingshaft. Ohne Bewährung.

Waren es anfangs nur sich mehrende Indizien, wie pausenloses Geläut zahlreicher Schneeglöckchen oder das sinnlose Geballer einer jedenorts ins Kraut schießenden Natur, so ist mittlerweile der Hebel umgelegt, welcher die Welt aus ihrer depressiven Episode in jene manische Phase hineinkatapultiert, die alles auf den Kopf stellt. Vor allem auf meinen. Glaube ich.

Überhaupt, die Hormone. Beständige Sonneneinstrahlung und verschärfte Vitaminzufuhr auf allen denkbaren und undenkbaren Kanälen bringen da einiges durcheinander, was doch zuvor so schön geordnet schien. Der sanft umhüllende Mantel aus Stille und früher Dunkelheit wurde hinfortgerissen und auf den Bäumen tummeln sich Eichhörnchen auf LSD. Schon zu unchristlicher Morgenstunde rauben die Revierabgrenzungslaute von Heerscharen aus dem Exil zurückgekehrter Federwesen mir den gerechten Schlaf. Gab es nicht eine Diskussion um einzurichtende Auffanglager für Nordstrebende in den weiten Wüsten Afrikas? Doch man diskutiert nicht mehr. Man schreibt Gedichte. Eine Welle, die selbst mich dereinst erfasste. Aus zuvorkommender Rücksichtnahme auf den gerade noch geneigten, mittlerweile längst schon aufrechtstehenden Leser, seien hier nur die letzten Zeilen daraus zitiert:

... wie war doch der Winter schön grau und schön trist
Jetzt düngen die Bauern. Jetzt stinkt es nach Mist.

Jede zuvor in unbescholtenem Winterschlaf träge dahindämmernde Wiese wird plötzlich von wild geworden vermehrungswilligen Büschen und Bäumen in einen Zustand versetzt, der mich permanent an Anti-Schuppen-Schampoos denken lässt. Und bringt – genauso plötzlich - alte Bekannte zurück, die man doch eigentlich in den letzten Herbsttagen frohen Mutes bis in den nächsten Oktober verabschiedet hatte. Um den Spuren bäumlich erblühter Sexualität zu Leibe zu rücken. Das Gerücht, dass auf den Kopf von Gustaf Doragrip ein Preisgeld ausgesetzt sei und er seither unter falschem Namen lebt, ja, sogar von Schweden nach Norwegen emigriert sei, halte ich für übertrieben. Und verwerflich. Sollte mir jemand jedoch eine Kontonummer nennen können, auf der ich mein Scherflein zur ausgelobten Summe beitragen kann, bin ich gern dazu bereit. Und wer keine Ahnung hat, wovon ich gerade rede, der möge doch einfach googlen, welche Erfindung er unter der US Patentnummer 6324721 zur Anmeldung gebracht hat.

Doch nein, der Frühling hat nicht nur seine nervigen Seiten. Ich bin gerne bereit, das zuzugeben. Als Erster sogar, wenn es sein muss. Macht es doch zum Beispiel in gerade diesen Tagen besonderen Spaß, all die Veränderungen wahrzunehmen, die mit den Menschen um mich so vor sich gehen. Geeigneter Ort dafür ist  zum Beispiel der Ausgang einer innerstädtischen S-Bahn-Station. An der ich jetzt schon seit etwa anderthalb Stunden stehe und darauf warte, dass sich meine weibliche Verabredung einstellt. Manche Dinge bleiben eben bei aller Veränderung umher auch konstant.

Insbesondere erquicklich ist die Wechselwirkung zwischen Sommermode und Selbstbewusstsein zu beobachten, die vor- und nachwiegend das weibliche Geschlecht betrifft. Damit meine ich nicht den abrupten Umstieg von flachgummierten Winterstiefeln auf luftige, absätzige Sommersandälchen, die so manch eine Dame vor gravierende Herausforderungen im Konflikt mit Naturgesetzen stellt und teilweise zu bösen Abzügen in der B-Note (Haltung und Ausdruck) führt. Das gibt sich schnell, mit der Zeit. Interessanter ist zu sehen, wie der vor heimischem Spiegel noch aufwallende Mut angesichts einer breiteren Öffentlichkeit in sich zusammenfällt. Und die Betreffende dann sehnlichst wünschen lässt, es sei nicht allein die Öffentlichkeit, die sich ein wenig breiter gestalten würde, sondern auch das ausgewählte, um die Hüften geschwungene Kleidungsstück. Oder, wenn nicht das, dann wenigstens eben jene ein wenig weniger breit. Mit jedem Schritt wird nun so unauffällig wie möglich ein bisschen gezupft, um die paar vermeintlich entscheidenden Millimeter zusätzlicher Länge zu gewinnen. Ich – als zumindest mittelbarer Angehöriger der adressierten Zielgruppe – kann versichern: beiderlei Sorge ist unbegründet. Und manches Mal wünsche ich mir sogar heimlich einen Laubpuster herbei. Was wiederum kein anderes als ein untrügliches Indiz ist: ja, auch mich hat der Frühling gepackt. Hält mich fest in seinen Klauen. Warum auch warte ich hier sonst schon seit mittlerweile annähernd zwei Stunden. Auch, wenn ich dabei deutlich weniger Blütenblätter verliere als die umstehende Vegetation. Hoffe ich, zumindest.

Der Legende nach verdanken wir eine der entscheidenden Erfindungen der modernen Zeit einem Geschlechtsgenossen, der, in gleicher Situation wie ich, vermittels eines kleinen Stückchens Draht gegen seine Langeweile ankämpfte. Nach etwa drei Stunden soll er auf diese Weise die erste Büroklammer der Welt in seinen wunden Fingern gehalten haben. Ob die Dame dann noch zum Rendezvous erschienen ist, wurde nicht überliefert. Wohl aber, dass der Ungarischer Dichter Ödön von Horváth am ersten Juni 1938, trotz Gewitters seiner charmanten Verabredung harrend, auf der Champs-Élysées in Paris von einem herabstürzenden Ast erschlagen wurde. Der Frühling fordert seine Opfer. Und ich kann mich kaum erwehren, schon allein aufgrund der nun schon seit fast zweieinhalb Stunden an den Tag gelegten Passivität ähnliche Gefühle zu entwickeln. Nur das Dichten sollte ich vielleicht dabei lassen. Siehe Oben. Doch auch ein Blick in den malerischen Abendhimmel gibt mir kein Stückchen Draht in die Hand.

Vielleicht werden auch deshalb so viele Gedichte geschrieben, weil es ansonsten immer weniger gelingt, sich einen Reim auf manche Dinge zu machen. Was zum Beispiel würde man nicht alles einem Handwerker an den Kopf werfen, der erst drei Stunden nach dem verabredeten Termin erscheint? Welche Chance einem Bewerber geben, der mit gleicher Verspätung zum Vorstellungsgespräch antritt? Statt dessen grübelt man hin und her, welche Begrüßungsform denn nun gleich die angemessene sein würde. Ein Lächeln, mit kurz eingeworfenem, vertraulichen Zwinkern; dazu ein sanft gehauchtes „Hallo, schön das Du da bist“? Oder eher ein verwegenes, draufgängerisches „Hey, wollen wir erst einmal etwas trinken?“ Vor dem Essen, natürlich. Was dachten Sie denn, lieber Leser. Förmlicher Handschlag scheidet völlig aus. Geht denn eine angedeutete, leichte Umarmung zur Begrüßung vielleicht schon ein wenig zu weit? Und harmoniert sie nach etwas mehr als drei Stunden in der Abendsonne immer noch mit der durchschnittlichen Halbwertszeit des Eau de Cologne?

Trüge man sämtliche Überlegungen dieser Art aller Männer weltweit zusammen, die auf ihre verspätete Verabredung warten, entstünde eine wahrhaft umfassende Etymologie menschlicher Begrüßungsrituale. Die einem überhaupt nichts nützen würde, da immer noch der entscheidende Hinweis fehlte, wo denn nun genau nachzuschlagen sei. Auf jeden Fall kann festgestellt werden, das die Zeitspanne, die auf solche Überlegungen verwendet wird, in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur Lockerheit steht, die sich dabei in einem durchschnittlichen, männlichen Wesen ausbreitet. Nur gut, dass ich alles andere als durchschnittlich bin. Mittlerweile gehen die ersten Pärchen schon wieder zurück in Richtung S-Bahn, um irgendwo mit sich alleine zu sein. Mehr will ich mir an dieser Stelle gar nicht vorstellen. Es hat durchaus auch seine Vorteile, allein zu leben. Vielleicht fallen mir ja später wieder welche ein. Schließlich kommen ja auch noch die Eisheiligen.

Wie soll es auch möglich sein, sich der ringsum so überbürdend zur Schau getragenen Paarungswut zu entziehen? Zwiebelblumen, Obstbäume, Insektenschwärme, heiser gesungene Kohlmeisen und kurz berockte Mädchen nehmen einen allenthalben in die Zange. Wer sich über die zunehmende Sexualisierung unserer Medienwelt beklagt, möge doch einmal vier Stunden an einem Frühlingsabend zwischen Parkeingang und S-Bahn-Station verbringen. Dann reden wir weiter. Jetzt nicht. Denn – ich glaube, da kommt sie ... und - oh Himmel - sie sieht wundervoll aus ... ich liebe den Frühling ...

Handelt es sich bei der wunderbaren Frau tatsächlich um das Rendezvous unseres Helden? Oder hat er sich einfach nur an die falsche S-Bahn-Station gestellt? Wir werden es nie erfahren. Denn gerade wurde bei Facebook der aktuelle Aufenthaltsort von Gustaf Doragrip geposted. Also schnell noch in den Baumarkt ein entsprechendes Gerät besorgen, und dann auf nach Norden ... den Garten um sein Häuschen ein wenig auf Vordermann bringen ... um sieben Uhr morgens ...

(c) 2011 verkomplizissimus