Montag, 14. November 2011

In Liebe reisen


Das Universum lächelt Dich schöner an, wenn Du denn ganz in der Liebe bist. Viele Religionen betrachten den Zustand, „ganz in der Liebe zu sein“ als eines ihrer höchsten Ziele und das schon seit altersher. Daran ist leicht zu erkennen, dass dieses Glaubensprinzip deutlich vor der Zeit formuliert wurde, in welcher die Deutsche Bahn Tischsitzplätze in Großraumwagen eingeführt hat. Mit diesem Umstand hat sich das Universum nämlich dann wohl einen kleinen Scherz erlaubt.

Immerhin bietet dieses quasi-öffentliche Testlabor für soziale Konflikte zwischen sich völlig fremden Menschen viele Vorteile: So können zum Beispiel junge Ethnologen Primärformen menschlicher Verhaltensmuster in freier Wildbahn studieren, ohne dafür strapaziöse Reisen in die ja meist klimatisch eher unangenehmen, jedweder Zivilisation fernen und oft mit zahlreichen Krabbeltieren angefüllten Orte der Welt auf sich nehmen zu müssen. Gut - sie müssten dann natürlich mit der Deutschen Bahn fahren; so etwas mag viele abschrecken. Und in mancher Hinsicht oft auf das gleiche hinauslaufen. Vielleicht von dem Umstand abgesehen, dass eine orientierungslose Wanderung durch die Regenwälder Amazoniens hinsichtlich Ablauf, zu erwartender Ereignisse sowie voraussichtlichem Ankunftsort und –zeitpunkt etwas planbarer scheinen mag. Bahnfahren ist eben eher etwas für echte Abenteurernaturen und nicht immer ohne Risiko. Doch Menschen mit wahrem Forschergeist sollte so etwas nicht abhalten. Wir müssen alle Opfer bringen.

Im Falle der Deutschen Bahn ist das Ritual der Opfergabe vergleichsweise einfach geregelt. Der Probant begibt sich in direkte Interaktion mit den unberechenbaren Kräften mystischer Urgewalten, die – wenn auch in zumeist streng limitierter Kapazität - in der Form von Fahrkartenautomaten angeboten werden. Die Höhe der Opfergabe richtet sich dabei nach der Länge des Weges, den der Kandidat einzuschlagen gedenkt, dem Stand des Mondes in Relation zum Sternbild der kleinen Blattlaus und mindestens noch vierundzwanzig anderen Einflussfaktoren, über die kein menschliches Wesen bis dato jemals wirkliche Übersicht gewinnen konnte. Ich kenne niemanden, dem es gelungen ist, auch bei peinlich genauem Einhalten gleicher Rahmenbedingungen und Eingaben jemals zu einem gleichen Fahrpreis für die selbe Strecke gekommen zu sein. Wer sich je eingehender mit Douglas Adams unwahrscheinlichem Unwahrscheinlichkeitsdrive (dem Antriebsmodul der „Heart of Gold“ und des ICE 1094 „Sprinter“ zwischen Hamburg und Köln) beschäftigt hat, kann die Dimension dieses Phänomens erfassen. Die räumliche Nähe vieler Automatenkasinos zu öffentlichen Fahrkartenautomaten ist hier durchaus nicht als zufällige Wendung zu betrachten.

Nach Entrichten der Opfergabe folgt die Einstimmung auf das spirituelle Erlebnis der Reise in zumeist karg und provokativ lieblos ausgestatteten Sakralräumen. Oft verkannt, sind es immer wieder Bahnhöfe gewesen, welche viele Menschen über die engen Grenzen ihres Alltagserlebens hinaus in quasispirituelle Grenzerfahrungen geführt haben. Die metaphysische Gleichmut gegenüber der Unvollkommenheit dieser Welt, welche sich selbst Meistern der transzendentalen Meditation erst nach jahrzehntelangem, entbehrungsreichem Training offenbart, lernt der Bahnreisende quasi im Vorbeigehen – durch radikale Akzeptanz gegenüber all den widrigen Umständen, die zwar in direkter Wechselwirkung mit seiner aktuellen Lebenswirklichkeit stehen, auf die er aber nicht den geringsten Einfluss ausüben kann. Der Weg zum Beginn dieser spirituellen Reise führt durch die Erkenntnis, dass nur der bei geistiger Gesundheit bleiben kann, der es versteht, sein grundsätzliches Wohlbefinden und Überleben als fühlender Mensch gänzlich von der unkontrollierbaren Absurdität des Lebens an sich zu entkoppeln. Nur wenige Orte sind so gut für diesen Erkenntnisgewinn geeignet wie deutsche Bahnhöfe. Und kein anderer Ort gewährt dem Suchenden und Reisenden ein vergleichbares Maß an Zeit, um diese in der Theorie oft allzu  abstrakte Lernaufgabe so deutlich am eigenen Leib zu erleben. Rechne ich selbst die Jahre zusammen, die ich unerwartet und ungeplant auf Bahnhöfen verbringen durfte, zählen diese zwar auch rückblickend nicht zu den glücklichsten, aber doch immerhin zu den Momenten meines Lebens, die mir recht nachhaltig in Erinnerung geblieben sind. Jede einzelne Minute von ihnen.

Erst wer diesen Prozess brachialer Läuterung vollständig ausgekostet hat, ist wirklich auf das vorbereitet, was ihn nun im Verlauf der eigentlichen Reisebewegung erwartet. Oder eben auch nicht. Zumal nicht, wenn sich der Reisende (wie ich) für die Reservierung eines Tischplatzes im Großraumwagen entschieden hat. Okay, das ist dann sicherlich gleich die ganz harte Tour. Ich möchte jedem Anfänger, der auf der Suche nach ersten Erfahrungen in diesem Bereich ist, dringend davon abraten. Wenn es schon die Herausforderung einer Platzreservierung sein soll, möge man sich doch mit einfacher Bestellung einzelner Plätze im Großraumwagen langsam an die Fährnisse der Reservierung an sich herantasten; man mag sich dann – nach eigenem Zutrauen – langsam in die Sphären der ausdrücklichen Fensterplätze und Zugabteile vortasten. Das Universum ist stets bereit, die noch so profanen Wünsche eines jeden Menschen anzuhören. Wieviel davon dann später und tatsächlich Wirklichkeit wird, mag den Grad des Glaubens und seine geistliche Reife illustrieren.

Das Kismet meiner Reise beschert mir diesmal ein paar echte Klassiker: den kommunikativen Geschäftsmann kurz vor der Frühpensionierung, das legendäre „Mutter mit überdrehtem Kleinkind“-Paket, den müden Bauingenieur und den weltoffenen Studenten. Letzteren nur phasenweise und kurz, da er schon nach Zwischenhalt an der nächsten Signalstörung durch den kommunikativen Geschäftsmann von seinem Platz in dieser Gesellschaft vertrieben und kurzerhand aus dem Zug geworfen wird. Wofür ich ihm – das bekenne ich hier offen – insgeheim vielleicht sogar ein wenig dankbar war, in diesem Augenblick. War es dem jungen Mann doch weniger gelungen, in den ersten Stunden der Fahrt meine sonst doch so vorbehaltlosen Sympathien  zu gewinnen. Denn auch, wenn ich die besonderen Umstände drangvoller Enge im Großraumwagen fair und entschuldigend berücksichtige, mag ich nicht ganz auf meine bescheidenen Ansprüche und Territorialrechte verzichten. Insbesondere dann nicht, wenn ich am Laptop arbeite – schließlich hatte ich ja vorwiegend aus diesem Grund einen der begehrten Tischplätze gebucht. Da gibt es manchmal Steckdosen.

„Also ... dat denk isch aber jetzt schon, dat dat „das“ da hier mit zwei ‚s‘ jeschriewe wird.“ Auf Fahrten in Richtung des tieferen deutschen Westens muss man auf dererlei Einwürfe zumindest sprachlich, wenn schon auch nicht inhaltlich vorbereitet sein. Ich mag es eher, wenn mein Sitznachbar nicht ganz so proaktive Anteilnahme an dem dokumentiert, das ich gerade schreibe. „Schaun sie einmal da oben, da hamse dat nämisch jlatt richtig jeschrieve.“ Ich bedankte mich artig für seine wohlwollende Einmischung und bat ihn – ebenso freundlich – noch einmal den Teil seiner Botschaft zu  wiederholen, in dem er mir gewiss dargelegt habe, warum denn genau nun ihn das etwas anginge. Ich hätte anscheinend diesen wichtigen Teil seiner Ausführungen verpasst. Zumindest könne ich mich gerade nicht wirklich an seine, sicher schlüssige Beweiskette in dieser Sache erinnern. Die vorgezeigte Immatrikulationsbescheinigung aus dem germanistischen Seminar zu Köln konnte mich da weniger beeindrucken. Der quer aufgedruckte Stempel „Pädagogisches Seminar“ traf in etwa meine Erwartungshaltung so genau wie sein Ellenbogen die Nasenwurzel des kommunikativen Geschäftsmann, der schon seit etwa einer Viertelstunde unbemerkt hinter dem Jüngling stand und bemüht war, ihn darauf hinzuweisen, dass jener widerrechtlich den von ihm reservierten Sitzplatz belege. Ich finde, dass der junge Mann im Zuge der Signalstörung eigentlich noch ganz gut weggekommen ist. Noch fünf Minuten mehr dieser Konversation und ich hätte vermutlich nicht so lange gewartet, bis der Zug gehalten hätte.

Im Zuge der Platznahme des kommunikativen Geschäftsmannes kam es zu den üblichen, herzhaften Territorialkonflikten hinsichtlich der Tischplattennutzungsrechte, die wir freundlich und routiniert miteinander ausfochten. Ich kann ja auch ein ganz kommunikatives Kerlchen sein, wenn ich will. Und kompromissbereit. Solange ich mein Recht an der Steckdose verteidigen konnte, war ich in der Lage damit zu leben, dass seine Aktenlage eben nur noch die Hälfte meines Bildschirmes sichtbar sein ließ. Ich schaltete auf linksbündigen Zeilensatz und tippte vergnügt weiter meiner Dinge. Allerdings hatte sich zwischenzeitlich und von mir unbemerkt der linke Fuß des apnoeartig vor sich hinsterbenden Bauingenieurs unter meiner Laptoptasche hindurch unter meinen Sitz vorgearbeitet und trat mich jetzt in Takt rhythmisch zuckender Traumtätigkeit von unterwärts spürbar durch den Hartschalensitz in eher empfindliche Körperregionen.

Von allen antiken, philosophischen Strömungen habe ich die Stoiker stets am intensivsten bewundert. Ich möchte so weit gehen, dass ich zuweilen tatsächlich versuche, ihnen ein wenig nachzueifern. Die Hartschalensitze der Deutschen Bahn sind da ein dankbares Übungspflaster. Schon allein, weil das Pflasterartige so hervorragenden Ausdruck  in ihrer umfassenden Flauschigkeit erfährt. Ich möchte gar nicht wissen, was der Gestalter dieser Hartschaumstühle denn nachts so für Träume hat. Wahrscheinlich aber verdient er gut genug an solcherlei Aufträgen, um sich einen Sportwagen mit Recaro-Sitzen leisten zu können. Solche Menschen fahren nicht mit der Bahn.

Deutlich anders verhält es sich im Gegenzug – nein, eben leider nicht in diesem, sondern in meinem, in dem ich gerade sitze und noch immer verzweifelt versuche zu arbeiten – mit alleinreisenden Müttern in Begleitung überdrehter Kleinkinder. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich im Wesentlichen durch die weltabgewandte Teilnahmslosigkeit, welche jene Damen nach zumeist ja schon einiger Zeit andauernder Permanentzähmung jugendlichen Überschwangs an den Tag legen. Die umgebende Welt nimmt dafür dann in der Regel um so intensiver an der Gefühlswelt der putzigen Kleinen teil. Mein kleines Mitreisendes vom Platz schräg gegenüber hat heute zum Beispiel Zahnschmerzen. Also – der Art, die Zähne anrichten können, wenn sie sich initial durchs Zahnfleisch bohren. Und etwas Angst vor mir hat es auch. Vielleicht war mein Blick, mit dem ich das putzige Getapse karottensaftverschmierter Terroristenhändchen auf meinem Bildschirm und der Tastatur quittierte, ein wenig zu abgrenzend für das sonst doch so ungeteilt gespiegelte Niedlichkeitsempfinden. Ich hatte schon immer einen Hang dazu, Kleinkinder zu traumatisieren. Andere Menschen hinterlassen gar keine Spuren in den Leben anderer.

Mittlerweile hatte sich auch der zweite Fuß des Bauingenieurs unter meinem Sitz eingefunden und was ich an Beinen und anhänglichem mitzubringen hatte in eine Art lotussitzartiger Verknotung hinter meinem Rücken gezwungen. Was mir gar nicht weiter auffiel, war ich doch viel zu sehr damit beschäftigt, meinen Geist vor seinem ausgedehnten Telefongespräch mit der ihn erwartenden Baustelle zu verschließen. Geschichten über Estrich und Raumentfeuchter haben einen verderblichen Einfluss auf mich, dem ich mich immer wieder zu entziehen versuche. Ganz so wie seine Füße, die sich auf irgendeine ominöse Weise jeweils dreimal in den Tragegurt meiner Laptoptasche eingewickelt hatten. Sein böser Blick zu mir rächte das Kleinkind und schien offenkundig zu postulieren, ich sei es gewesen, der in niederträchtiger Absicht dieses Makramee mit seinen Füßen veranstaltet hatte. Klar, ich verknote gern die aufdringlichen Extremitäten meiner Mitreisenden bindend mit meinem Hab und Gut. Wenigstens hat der Blick keine weiteren Folgewirkungen gezeigt. Meine Traumata liegen weiter zurück und bewirken anderes Verhalten.

Meine Aufmerksamkeit gilt hingegen im Augenblick ganz der Mutter. Denn die isolierende Verkleidung des Kabels, das mein Netzteil mit ca. 230 Volt Regelspannung versorgt, droht mittlerweile ernsthaft unter dem so lückenhaften wie fortwährenden Biss ihres Lendensprosses ihre abgrenzende Wirkung zu verlieren. Und es gibt eben Fälle, in denen Abgrenzung ziemlich wichtig sein kann. Also weise ich sie in freundlichem Ton darauf hin, dass ich zwar ein Ersatzkabel für mein Netzteil im Koffer bei mir trage, umgekehrt aber ihre Chancen, im Ernstfall auf ein Ersatzkind zurückgreifen zu können, wahrscheinlich eher als eingeschränkt zu bezeichnen sind. Zumal, wenn sie weiterhin trotz Sonnenschein so trübe aus dem Fenster starren würde wie eine Achtundneunzigjährige auf Kaffee-Entzug.

Überhaupt, Kaffee. Ob ich sie zu einem einladen sollte? Vielleicht kann sie dann ihren kleinen Sonnenschein zumindest phasenweise davon abhalten, mit dem aus der Gepäckablage über den Sitzen ragenden Tragegurt zu spielen. Diese sind zumeist nicht zu breit veranlagt (ich rede hier von den Gepäckfächern, nicht den Tragegurten; die sind meist tief zu breit als höher. Oder das Gegenteil). Das Schicksal führte mich, sie, ihr Kind, den Kaffeeverkäufer und einen mit mindestens siebzehn Bleiplatten gefüllten Hartschalenkoffer ungewollt spontan zusammen. In einer Kurve, gleich hinter Bottrop-Kirchhellen, gibt es eine für diesen Anlass hervorragend geeignete Weichenkombination. Ein kurzer Schritt zur Seite und dann schnell wieder zurück in die Ausgangsposition. In diesem Zug steckt Musik. Und ich fühle mich an meinen ersten Tanzkurs erinnert. Da habe ich mich ganz ähnlich verhalten, damals. Inklusive des einmal komplett ausgeschütteten Kaffeebechers. Nur Laptops gab es damals in dieser Form eher selten und sie wurden in der Regel auch nicht zu einem Tanzkurs mitgeführt. Ich sehne mich nach dieser Zeit. Und mein kaffeetropfendes Laptop gerade auch. In sanften Schleiern marmoriert sich gerade ein tiefdunkles Rot in die wabernde, zähflüssige Pfütze über der nur noch schemenhaft erkennbaren Tastatur meines Rechners. „Sie bluten ja ...“

Nun ja, mein spontanes Zusammenkommen mit dem Hartschalenkoffer verlief so trefflich. So knapp von über der Schläfe bis fast hinunter bis zum Kinn. Ich spucke ein paar Zähne auf den Tisch, die vom Kind begeistert als neue Spielzeuge begrüßt werden. Vielleicht ist der schlechtgelaunte Onkel von schräg gegenüber ja doch gar nicht so übel. Immerhin ein paar Zähne hat er zum Spielen ja schon einmal mitgebracht. Da darf er auch mal böse gucken. Oder verwirrt und erstaunt. So wie etwa jetzt. Dabei verriet mein Gesicht gewiss nur eine beinahe vollkommene Abwesenheit von Anspannung. Selten bin ich dem Nirwana in meinem Leben so nahe gekommen wie in diesem Moment.

Sie hat mir dann ganz mütterlich ein wenig den Kopf erst verbunden und dann auch noch verdreht. Und einen neuen Kaffee gekauft. Ein neues Laptop nicht, das war aber auch egal, in diesem Moment. Wir sind noch etwas zusammen Bahn gefahren. Bis ganz ins Nirwana sind wir dabei nicht gekommen. Aber viel über den Taoismus haben wir geredet. Und über Kindererziehung. Weniger über Laptops. Das habe ich dem Bauingenieur von gegenüber in Rechnung gestellt. Ich war dann sogar ein wenig traurig, als die Zugreise zu ende war. Trotz der ausgetauschten Gedanken und E-Mail-Adressen. Ich bin seit dem erst einmal wieder mehr Flugzeug geflogen.

Wird unser Held nun erfahren müssen, dass Tomatensaft viel klebriger ist als Karottensaft? Sich keine der distanziert schönen Flugbeleiterinnen dazu überreden lässt, wechselnde Hand an seinen Kopfverband zu legen? Wir werden es nie erfahren. Denn wir suchen immer noch verzweifelt an kryptischen Anzeigetafeln nach dem Zug, mit dem wir Anschluss in Richtung Nirwana haben können ...


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