Samstag, 17. Dezember 2011

Schicksalhaftes von Märkten und Wirtschaften


Wie jedes Jahr hat es auch in diesem wieder ein wenig gedauert, bis ich mich von meinem metaphysischen Schrecken erholte. Diesem Schrecken, mit dem ich meinte festzustellen, meine Realität sei zu einer Shakespeare-Inszenierung geraten. Doch was auch immer an meinen Händen klebte lässt sich abwaschen, keine Lady Macbeth säuselt mir giftigsüße Karrierepläne ins Ohr und all die Bäume, von denen ich meinte, sie stünden im Begriff die Stadt zu erobern, tragen rote Schleifchen und glitzernde Kugeln. Keine Tracht für eine grimmige Armee. Obwohl.

Die Welt scheint dieser Tage wohl geraten; vor allem aus ihren Fugen. Doch hier geht es nicht um diese so trefflich mathematisch schönen Kompositionen aus der Feder barocker Komponisten. Statt meiner Neigung zu eben jenen Rechnung zu tragen, trägt man musikalisch lieber vor. Meist öffentlich. Und dabei dann auch noch dick auf. Vor allem ge. Also – tragen. Quasi: Second Hand Musik. Ein wenig verwaschen und um die Erinnerung an Zeiten ringend, in denen Schlaghosen unten kleine Glöckchen trugen und Weihnachten etwas furchtbar Aufregendes war. Dabei ist es das durchaus immer noch. Doch ich will mich nicht aufregen.

Zum Beispiel darüber, dass es kaum noch möglich ist, irgendwo ein Schlückchen Wein oder Kaffee zu trinken, ohne auf eine feuchtbetrieblichfröhliche Weihnachtsfeier zu treffen. Und es eben nicht immer einfach ist, spontan einen Tisch für 36 Personen zu finden - möglichst im Hinterzimmer. Also weicht man auf die Märkte aus, die in den letzten Wochen – wohl zu ebenjenem Behufe - auf jedem öffentlichen Platz von mehr als zwei Quadratmeter Größe quasi wie von selbst aus dem Boden gewachsen sind. Tannenumkränzte Trutzburgen weihnachtlichen Frohsinns. Hier wird an Menschen, die unter normalen Umständen Weine, deren Namen man ohne Doktorwürde der Académie Française nicht lesen, geschweige denn aussprechen kann, keines Blickes würdigen, jetzt aufgewärmt Süffiges aus dem Tetrapack ausgeschenkt und jeder ist bereit, dafür auch noch ein kleines Vermögen hinzublättern; zuzüglich Becherpfand. Es ist schließlich bald Weihnachten. Und damit unumgänglich, irgendwann selbst in diesen Tannenbüschelstrudel eingesogen zu werden.

Schnell sind da die Sinne von porzellanfigürlichen Heerscharen mutmaßlicher Himmelsbewohner umzingelt, deren durchweg geflügelte, mal Harfe, mal Trompete spielende, zuweilen auch kerzentragende Darstellung dabei in meinem ästhetischen Wertesystem viel eher dem Konzept ewiger Verdammnis nahe kommt. Doch gerade in dieser Zeit möchte ich über Geschmack nicht streiten: schließlich gibt auch der geschäftliche Erfolg dieser Ansammlungen von Fröhlichkeitsverkündendern altrosaner bis himmelblauer Färbung recht. Das ist wie mit den Einschaltquoten für Sendungen wie „Mitten im Leben“ oder „Familien im Brennpunkt“ ... Mehrheiten können sich nicht irren und finden auch hier ihren sichtbaren Ausdruck. In wie vor der Auslage. Also verzichte ich darauf, an diesen Ständen unter Zuhilfenahme eines langen Tannenzweiges jene kontemplative, optische Stille herzustellen, die ich an manchen protestantischen Sakralbauten so sehr mag. Lieber wende ich mich anderen Dingen zu. Viel anderes bleibt mir ohnehin nicht übrig: längst hat mich die amorphe Masse Weihnachtswütiger völlig erfasst und trägt mich mit sich fort.

Das nun folgende Phänomen läuft nach etwa den gleichen Prinzipien ab wie die sagenumwobene „Wall of Death“, die sonst von eher unfriedlichen Zeitgenossen im Rahmen ausgelassener, schwermetallener Rockkonzerte zur Aufführung gebracht wird. Zuweilen auf Geheiß der fröhlichen Musikanten auf der Bühne, manchmal aber auch einfach selbstorganisiert nehmen dabei zwei oder mehr Hälften des Publikums - mit etwas Platz dazwischen - gegenüber von einander Aufstellung, um dann unter großem Hallo aufeinander zuzustürmen, bis sie im vollen Lauf aufeinander treffen. Mittlerweile ist diese Spielart des Pogo auf Rockkonzerten amtlicherseits untersagt, weil sie nur allzu oft ihrem Namen im anschließenden Gedränge, bei dem man Extremitäten, Kleidungsreste und Zahnfragmente auseinander sortiert, alle Ehre machte. Auf deutschen Weihnachtsmärkten bleibt dieses Spiel hingegen gängige Praxis, auch wenn es zumeist stark verlangsamt, also sozusagen in Zeitlupe abläuft. Und selten Platz genug ist, wirklich eine Gasse zwischen den gegeneinander drängenden Massen zu bilden. Wahrscheinlich deshalb blieb dieses Treiben bislang von den meisten Ordnungshütern unbemerkt. Und die wenigen, die dann doch Notiz davon nahmen, sind viel zu eingeklemmt, um an ihr Funkgerät zu gelangen und um Hilfe röcheln zu können. Es sollen schon Menschen auf Weihnachtsmärkten deshalb bei Regen ertrunken sein: das Wasser fand schulterabwärts einfach keine Gelegenheit mehr, abzulaufen. Und stieg so schnell allen erst zu, dann letztlich über den Kopf. Vielleicht war es auch Glühwein. Wer will das schon so genau wissen.

Drangvolle Enge hat ihre Vor- und ihre Nachteile. Ohne sie wäre mancher rechtschaffende Taschendieb ganz um sein karges Einkommen betrogen, mancher Lustmolch um seine spärlichen Momente erotischen Wohlbefindens gebracht und hätte der Orthopäde, bei dem ich anschließend  meine gebrochenen Zehen eingipsen lassen muss, viel weniger zu lachen. Auf jeden Fall kommt man so mit fremden Menschen nicht nur schnell ins Gespräch, sondern auch gleich darüber hinaus in engen Körperkontakt. Vergessen sie alles, was sie jemals über Speed-Dating oder Engtanzfeten gehört oder gelesen haben. Ich sage Ihnen: Weihnachtsmärkte ...

Ich bin ja eher kein Anhänger der Meinung, dass Alkohol allgemein den Flirterfolg fördert; vor allem nicht, wenn man ihn sich selber zuführt. Auf der anderen Seite sind manche Verletzungen intimer Privatsphäre und Angriffe gehörter, gerochener, gesehener, gefühlter oder geschmeckter Wahrnehmung der einen auf Weihnachtsmärkten umgebenden Welt in nüchternem Zustand nur schwer zu ertragen. Der vielbeschworenen Be-Sinnlichkeit der Vorweihnachtszeit steht die überwiegende B-Qualität der gelieferten Sinneseindrücke feindlich gegenüber. Doch wie so manche B-Movies genießen diese traditionell und mitunter nicht nur im sprichwörtlichen Sinne bis zum Erbrechen wiederholten Erfahrungen bei manchen Menschen echten Kultstatus. Ich halte mich da an Kaffee. Und an der Säule fest, welche der Kaffeestand unschuldig in Not geratenen Passanten gleich einer Rettungsinsel zur Verfügung stellt.

Und jeder, der sich je um vier Uhr Morgens wurmbewaffnet und angelgerüstet auf den Weg gemacht oder bis vier Uhr morgens, den Blick starr und auf der Suche nach Sternschnuppen gen Himmel gerichtet, auf einer kühlklammen Sommerwiese ausgeharrt hat, kennt diese meditative Ruhe, die aus nichts anderem als aus einer tiefen Gewissheit heraus erwächst: Irgendwann passiert es dann. Und es verfängt sich ein Wollschal, ein Seidentuch oder eine kleine, zarte Hand zwischen Wintermantel, Holzleiste und Tannenbaum und das Schicksal spült eine nette Begegnung auf die linke, große Zehe. Und hier kommt dann nicht nur der schmerzende Fuß, sonder auch der wahre Vorteil eines Weihnachtsmarktes zum Tragen: der so Herangetragenen fällt es gar nicht so leicht, sich diesem zwangsweigerlich entstandenen Anlächeln zu entziehen. Anders als in freier Wildbahn, auf haiumzingelten Südsee-Eilanden oder im Rahmen sechsmonatiger Expeditionen durch die Antarktis sind die Entkommensmöglichkeiten weiblicher Wesen auf Weihnachtsmärkten überaus begrenzt. So bleibt denn immerhin genug Gelegenheit davon zu überzeugen, dass bärtige Männer meiner Statur auch für Damen im Alter von mehr als sechs Jahren interessant sein können, selbst wenn sie keine rote Flauschmütze tragen und Schokoladenlollies aus ihrem Jutesack zaubern können. Ob nun mit Glühwein oder ohne. Hach. Wie schön ist doch die Weihnachtszeit ...

Wird unser Held nun endlich seine Lady Macbeth im Gewirr der Tannenzweige finden? Oder sollte ihm, der sich immer noch verzweifelt an den Vordachpfosten eines Kaffeeausschankes klammert mal jemand sagen, dass der Weihnachtsmarkt schon vor vier Stunden geschlossen hat und mittlerweile wirklich alle Menschen verschwunden sind und Porzellanengel abgedeckt wurden? Wir werden es nie erfahren. Denn wir leiden noch immer unter einer schicksalhaften Begegnung mit der heißesten und verführerischsten Blaubeerbowle aller Zeiten ...

(c) 2011 verkomplizissimus

Montag, 14. November 2011

In Liebe reisen


Das Universum lächelt Dich schöner an, wenn Du denn ganz in der Liebe bist. Viele Religionen betrachten den Zustand, „ganz in der Liebe zu sein“ als eines ihrer höchsten Ziele und das schon seit altersher. Daran ist leicht zu erkennen, dass dieses Glaubensprinzip deutlich vor der Zeit formuliert wurde, in welcher die Deutsche Bahn Tischsitzplätze in Großraumwagen eingeführt hat. Mit diesem Umstand hat sich das Universum nämlich dann wohl einen kleinen Scherz erlaubt.

Immerhin bietet dieses quasi-öffentliche Testlabor für soziale Konflikte zwischen sich völlig fremden Menschen viele Vorteile: So können zum Beispiel junge Ethnologen Primärformen menschlicher Verhaltensmuster in freier Wildbahn studieren, ohne dafür strapaziöse Reisen in die ja meist klimatisch eher unangenehmen, jedweder Zivilisation fernen und oft mit zahlreichen Krabbeltieren angefüllten Orte der Welt auf sich nehmen zu müssen. Gut - sie müssten dann natürlich mit der Deutschen Bahn fahren; so etwas mag viele abschrecken. Und in mancher Hinsicht oft auf das gleiche hinauslaufen. Vielleicht von dem Umstand abgesehen, dass eine orientierungslose Wanderung durch die Regenwälder Amazoniens hinsichtlich Ablauf, zu erwartender Ereignisse sowie voraussichtlichem Ankunftsort und –zeitpunkt etwas planbarer scheinen mag. Bahnfahren ist eben eher etwas für echte Abenteurernaturen und nicht immer ohne Risiko. Doch Menschen mit wahrem Forschergeist sollte so etwas nicht abhalten. Wir müssen alle Opfer bringen.

Im Falle der Deutschen Bahn ist das Ritual der Opfergabe vergleichsweise einfach geregelt. Der Probant begibt sich in direkte Interaktion mit den unberechenbaren Kräften mystischer Urgewalten, die – wenn auch in zumeist streng limitierter Kapazität - in der Form von Fahrkartenautomaten angeboten werden. Die Höhe der Opfergabe richtet sich dabei nach der Länge des Weges, den der Kandidat einzuschlagen gedenkt, dem Stand des Mondes in Relation zum Sternbild der kleinen Blattlaus und mindestens noch vierundzwanzig anderen Einflussfaktoren, über die kein menschliches Wesen bis dato jemals wirkliche Übersicht gewinnen konnte. Ich kenne niemanden, dem es gelungen ist, auch bei peinlich genauem Einhalten gleicher Rahmenbedingungen und Eingaben jemals zu einem gleichen Fahrpreis für die selbe Strecke gekommen zu sein. Wer sich je eingehender mit Douglas Adams unwahrscheinlichem Unwahrscheinlichkeitsdrive (dem Antriebsmodul der „Heart of Gold“ und des ICE 1094 „Sprinter“ zwischen Hamburg und Köln) beschäftigt hat, kann die Dimension dieses Phänomens erfassen. Die räumliche Nähe vieler Automatenkasinos zu öffentlichen Fahrkartenautomaten ist hier durchaus nicht als zufällige Wendung zu betrachten.

Nach Entrichten der Opfergabe folgt die Einstimmung auf das spirituelle Erlebnis der Reise in zumeist karg und provokativ lieblos ausgestatteten Sakralräumen. Oft verkannt, sind es immer wieder Bahnhöfe gewesen, welche viele Menschen über die engen Grenzen ihres Alltagserlebens hinaus in quasispirituelle Grenzerfahrungen geführt haben. Die metaphysische Gleichmut gegenüber der Unvollkommenheit dieser Welt, welche sich selbst Meistern der transzendentalen Meditation erst nach jahrzehntelangem, entbehrungsreichem Training offenbart, lernt der Bahnreisende quasi im Vorbeigehen – durch radikale Akzeptanz gegenüber all den widrigen Umständen, die zwar in direkter Wechselwirkung mit seiner aktuellen Lebenswirklichkeit stehen, auf die er aber nicht den geringsten Einfluss ausüben kann. Der Weg zum Beginn dieser spirituellen Reise führt durch die Erkenntnis, dass nur der bei geistiger Gesundheit bleiben kann, der es versteht, sein grundsätzliches Wohlbefinden und Überleben als fühlender Mensch gänzlich von der unkontrollierbaren Absurdität des Lebens an sich zu entkoppeln. Nur wenige Orte sind so gut für diesen Erkenntnisgewinn geeignet wie deutsche Bahnhöfe. Und kein anderer Ort gewährt dem Suchenden und Reisenden ein vergleichbares Maß an Zeit, um diese in der Theorie oft allzu  abstrakte Lernaufgabe so deutlich am eigenen Leib zu erleben. Rechne ich selbst die Jahre zusammen, die ich unerwartet und ungeplant auf Bahnhöfen verbringen durfte, zählen diese zwar auch rückblickend nicht zu den glücklichsten, aber doch immerhin zu den Momenten meines Lebens, die mir recht nachhaltig in Erinnerung geblieben sind. Jede einzelne Minute von ihnen.

Erst wer diesen Prozess brachialer Läuterung vollständig ausgekostet hat, ist wirklich auf das vorbereitet, was ihn nun im Verlauf der eigentlichen Reisebewegung erwartet. Oder eben auch nicht. Zumal nicht, wenn sich der Reisende (wie ich) für die Reservierung eines Tischplatzes im Großraumwagen entschieden hat. Okay, das ist dann sicherlich gleich die ganz harte Tour. Ich möchte jedem Anfänger, der auf der Suche nach ersten Erfahrungen in diesem Bereich ist, dringend davon abraten. Wenn es schon die Herausforderung einer Platzreservierung sein soll, möge man sich doch mit einfacher Bestellung einzelner Plätze im Großraumwagen langsam an die Fährnisse der Reservierung an sich herantasten; man mag sich dann – nach eigenem Zutrauen – langsam in die Sphären der ausdrücklichen Fensterplätze und Zugabteile vortasten. Das Universum ist stets bereit, die noch so profanen Wünsche eines jeden Menschen anzuhören. Wieviel davon dann später und tatsächlich Wirklichkeit wird, mag den Grad des Glaubens und seine geistliche Reife illustrieren.

Das Kismet meiner Reise beschert mir diesmal ein paar echte Klassiker: den kommunikativen Geschäftsmann kurz vor der Frühpensionierung, das legendäre „Mutter mit überdrehtem Kleinkind“-Paket, den müden Bauingenieur und den weltoffenen Studenten. Letzteren nur phasenweise und kurz, da er schon nach Zwischenhalt an der nächsten Signalstörung durch den kommunikativen Geschäftsmann von seinem Platz in dieser Gesellschaft vertrieben und kurzerhand aus dem Zug geworfen wird. Wofür ich ihm – das bekenne ich hier offen – insgeheim vielleicht sogar ein wenig dankbar war, in diesem Augenblick. War es dem jungen Mann doch weniger gelungen, in den ersten Stunden der Fahrt meine sonst doch so vorbehaltlosen Sympathien  zu gewinnen. Denn auch, wenn ich die besonderen Umstände drangvoller Enge im Großraumwagen fair und entschuldigend berücksichtige, mag ich nicht ganz auf meine bescheidenen Ansprüche und Territorialrechte verzichten. Insbesondere dann nicht, wenn ich am Laptop arbeite – schließlich hatte ich ja vorwiegend aus diesem Grund einen der begehrten Tischplätze gebucht. Da gibt es manchmal Steckdosen.

„Also ... dat denk isch aber jetzt schon, dat dat „das“ da hier mit zwei ‚s‘ jeschriewe wird.“ Auf Fahrten in Richtung des tieferen deutschen Westens muss man auf dererlei Einwürfe zumindest sprachlich, wenn schon auch nicht inhaltlich vorbereitet sein. Ich mag es eher, wenn mein Sitznachbar nicht ganz so proaktive Anteilnahme an dem dokumentiert, das ich gerade schreibe. „Schaun sie einmal da oben, da hamse dat nämisch jlatt richtig jeschrieve.“ Ich bedankte mich artig für seine wohlwollende Einmischung und bat ihn – ebenso freundlich – noch einmal den Teil seiner Botschaft zu  wiederholen, in dem er mir gewiss dargelegt habe, warum denn genau nun ihn das etwas anginge. Ich hätte anscheinend diesen wichtigen Teil seiner Ausführungen verpasst. Zumindest könne ich mich gerade nicht wirklich an seine, sicher schlüssige Beweiskette in dieser Sache erinnern. Die vorgezeigte Immatrikulationsbescheinigung aus dem germanistischen Seminar zu Köln konnte mich da weniger beeindrucken. Der quer aufgedruckte Stempel „Pädagogisches Seminar“ traf in etwa meine Erwartungshaltung so genau wie sein Ellenbogen die Nasenwurzel des kommunikativen Geschäftsmann, der schon seit etwa einer Viertelstunde unbemerkt hinter dem Jüngling stand und bemüht war, ihn darauf hinzuweisen, dass jener widerrechtlich den von ihm reservierten Sitzplatz belege. Ich finde, dass der junge Mann im Zuge der Signalstörung eigentlich noch ganz gut weggekommen ist. Noch fünf Minuten mehr dieser Konversation und ich hätte vermutlich nicht so lange gewartet, bis der Zug gehalten hätte.

Im Zuge der Platznahme des kommunikativen Geschäftsmannes kam es zu den üblichen, herzhaften Territorialkonflikten hinsichtlich der Tischplattennutzungsrechte, die wir freundlich und routiniert miteinander ausfochten. Ich kann ja auch ein ganz kommunikatives Kerlchen sein, wenn ich will. Und kompromissbereit. Solange ich mein Recht an der Steckdose verteidigen konnte, war ich in der Lage damit zu leben, dass seine Aktenlage eben nur noch die Hälfte meines Bildschirmes sichtbar sein ließ. Ich schaltete auf linksbündigen Zeilensatz und tippte vergnügt weiter meiner Dinge. Allerdings hatte sich zwischenzeitlich und von mir unbemerkt der linke Fuß des apnoeartig vor sich hinsterbenden Bauingenieurs unter meiner Laptoptasche hindurch unter meinen Sitz vorgearbeitet und trat mich jetzt in Takt rhythmisch zuckender Traumtätigkeit von unterwärts spürbar durch den Hartschalensitz in eher empfindliche Körperregionen.

Von allen antiken, philosophischen Strömungen habe ich die Stoiker stets am intensivsten bewundert. Ich möchte so weit gehen, dass ich zuweilen tatsächlich versuche, ihnen ein wenig nachzueifern. Die Hartschalensitze der Deutschen Bahn sind da ein dankbares Übungspflaster. Schon allein, weil das Pflasterartige so hervorragenden Ausdruck  in ihrer umfassenden Flauschigkeit erfährt. Ich möchte gar nicht wissen, was der Gestalter dieser Hartschaumstühle denn nachts so für Träume hat. Wahrscheinlich aber verdient er gut genug an solcherlei Aufträgen, um sich einen Sportwagen mit Recaro-Sitzen leisten zu können. Solche Menschen fahren nicht mit der Bahn.

Deutlich anders verhält es sich im Gegenzug – nein, eben leider nicht in diesem, sondern in meinem, in dem ich gerade sitze und noch immer verzweifelt versuche zu arbeiten – mit alleinreisenden Müttern in Begleitung überdrehter Kleinkinder. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich im Wesentlichen durch die weltabgewandte Teilnahmslosigkeit, welche jene Damen nach zumeist ja schon einiger Zeit andauernder Permanentzähmung jugendlichen Überschwangs an den Tag legen. Die umgebende Welt nimmt dafür dann in der Regel um so intensiver an der Gefühlswelt der putzigen Kleinen teil. Mein kleines Mitreisendes vom Platz schräg gegenüber hat heute zum Beispiel Zahnschmerzen. Also – der Art, die Zähne anrichten können, wenn sie sich initial durchs Zahnfleisch bohren. Und etwas Angst vor mir hat es auch. Vielleicht war mein Blick, mit dem ich das putzige Getapse karottensaftverschmierter Terroristenhändchen auf meinem Bildschirm und der Tastatur quittierte, ein wenig zu abgrenzend für das sonst doch so ungeteilt gespiegelte Niedlichkeitsempfinden. Ich hatte schon immer einen Hang dazu, Kleinkinder zu traumatisieren. Andere Menschen hinterlassen gar keine Spuren in den Leben anderer.

Mittlerweile hatte sich auch der zweite Fuß des Bauingenieurs unter meinem Sitz eingefunden und was ich an Beinen und anhänglichem mitzubringen hatte in eine Art lotussitzartiger Verknotung hinter meinem Rücken gezwungen. Was mir gar nicht weiter auffiel, war ich doch viel zu sehr damit beschäftigt, meinen Geist vor seinem ausgedehnten Telefongespräch mit der ihn erwartenden Baustelle zu verschließen. Geschichten über Estrich und Raumentfeuchter haben einen verderblichen Einfluss auf mich, dem ich mich immer wieder zu entziehen versuche. Ganz so wie seine Füße, die sich auf irgendeine ominöse Weise jeweils dreimal in den Tragegurt meiner Laptoptasche eingewickelt hatten. Sein böser Blick zu mir rächte das Kleinkind und schien offenkundig zu postulieren, ich sei es gewesen, der in niederträchtiger Absicht dieses Makramee mit seinen Füßen veranstaltet hatte. Klar, ich verknote gern die aufdringlichen Extremitäten meiner Mitreisenden bindend mit meinem Hab und Gut. Wenigstens hat der Blick keine weiteren Folgewirkungen gezeigt. Meine Traumata liegen weiter zurück und bewirken anderes Verhalten.

Meine Aufmerksamkeit gilt hingegen im Augenblick ganz der Mutter. Denn die isolierende Verkleidung des Kabels, das mein Netzteil mit ca. 230 Volt Regelspannung versorgt, droht mittlerweile ernsthaft unter dem so lückenhaften wie fortwährenden Biss ihres Lendensprosses ihre abgrenzende Wirkung zu verlieren. Und es gibt eben Fälle, in denen Abgrenzung ziemlich wichtig sein kann. Also weise ich sie in freundlichem Ton darauf hin, dass ich zwar ein Ersatzkabel für mein Netzteil im Koffer bei mir trage, umgekehrt aber ihre Chancen, im Ernstfall auf ein Ersatzkind zurückgreifen zu können, wahrscheinlich eher als eingeschränkt zu bezeichnen sind. Zumal, wenn sie weiterhin trotz Sonnenschein so trübe aus dem Fenster starren würde wie eine Achtundneunzigjährige auf Kaffee-Entzug.

Überhaupt, Kaffee. Ob ich sie zu einem einladen sollte? Vielleicht kann sie dann ihren kleinen Sonnenschein zumindest phasenweise davon abhalten, mit dem aus der Gepäckablage über den Sitzen ragenden Tragegurt zu spielen. Diese sind zumeist nicht zu breit veranlagt (ich rede hier von den Gepäckfächern, nicht den Tragegurten; die sind meist tief zu breit als höher. Oder das Gegenteil). Das Schicksal führte mich, sie, ihr Kind, den Kaffeeverkäufer und einen mit mindestens siebzehn Bleiplatten gefüllten Hartschalenkoffer ungewollt spontan zusammen. In einer Kurve, gleich hinter Bottrop-Kirchhellen, gibt es eine für diesen Anlass hervorragend geeignete Weichenkombination. Ein kurzer Schritt zur Seite und dann schnell wieder zurück in die Ausgangsposition. In diesem Zug steckt Musik. Und ich fühle mich an meinen ersten Tanzkurs erinnert. Da habe ich mich ganz ähnlich verhalten, damals. Inklusive des einmal komplett ausgeschütteten Kaffeebechers. Nur Laptops gab es damals in dieser Form eher selten und sie wurden in der Regel auch nicht zu einem Tanzkurs mitgeführt. Ich sehne mich nach dieser Zeit. Und mein kaffeetropfendes Laptop gerade auch. In sanften Schleiern marmoriert sich gerade ein tiefdunkles Rot in die wabernde, zähflüssige Pfütze über der nur noch schemenhaft erkennbaren Tastatur meines Rechners. „Sie bluten ja ...“

Nun ja, mein spontanes Zusammenkommen mit dem Hartschalenkoffer verlief so trefflich. So knapp von über der Schläfe bis fast hinunter bis zum Kinn. Ich spucke ein paar Zähne auf den Tisch, die vom Kind begeistert als neue Spielzeuge begrüßt werden. Vielleicht ist der schlechtgelaunte Onkel von schräg gegenüber ja doch gar nicht so übel. Immerhin ein paar Zähne hat er zum Spielen ja schon einmal mitgebracht. Da darf er auch mal böse gucken. Oder verwirrt und erstaunt. So wie etwa jetzt. Dabei verriet mein Gesicht gewiss nur eine beinahe vollkommene Abwesenheit von Anspannung. Selten bin ich dem Nirwana in meinem Leben so nahe gekommen wie in diesem Moment.

Sie hat mir dann ganz mütterlich ein wenig den Kopf erst verbunden und dann auch noch verdreht. Und einen neuen Kaffee gekauft. Ein neues Laptop nicht, das war aber auch egal, in diesem Moment. Wir sind noch etwas zusammen Bahn gefahren. Bis ganz ins Nirwana sind wir dabei nicht gekommen. Aber viel über den Taoismus haben wir geredet. Und über Kindererziehung. Weniger über Laptops. Das habe ich dem Bauingenieur von gegenüber in Rechnung gestellt. Ich war dann sogar ein wenig traurig, als die Zugreise zu ende war. Trotz der ausgetauschten Gedanken und E-Mail-Adressen. Ich bin seit dem erst einmal wieder mehr Flugzeug geflogen.

Wird unser Held nun erfahren müssen, dass Tomatensaft viel klebriger ist als Karottensaft? Sich keine der distanziert schönen Flugbeleiterinnen dazu überreden lässt, wechselnde Hand an seinen Kopfverband zu legen? Wir werden es nie erfahren. Denn wir suchen immer noch verzweifelt an kryptischen Anzeigetafeln nach dem Zug, mit dem wir Anschluss in Richtung Nirwana haben können ...


(c) 2011 Verkomplizissimus

Montag, 31. Oktober 2011

Die Mathematik der Mitte

Vielleicht stimmt ja auch irgendetwas mit mir nicht. Zumindest zeigen mir diese kleinen Filmchen, mit denen mich regelmäßig eine zottelige Joghurtfirma ins „Weekend-Feeling“ schicken will, wie fern meine Lebenswirklichkeit sich offenbar neben dem Normalmaß eines durchschnittlich glücklichen Menschen bewegt. So schicken mich in der Regel eher schnarrende Durchsagen ins Weekend-Feeling, um mir mitzuteilen, dass sich eben die Reise ins Wochenende durch Verspätung des aktuell gewählten Transportmittels noch ein wenig länger hinziehen wird als ohnehin schon in Kauf zu nehmen war.

Wie weit gehen hier Realität und Wirklichkeit wieder einmal auseinander. Auf einer zugigen Drahtbank warte ich meinem Schicksal entgegen und mache mir trübe Gedanken. Früher waren solche Bänke noch aus Holz. Gaben etwas von der Wärme und dem Sonnenlicht an den Körper zurück, der auf ihnen saß. Heute sind solche Bänke aus geflochtenem Metall. Und machen mehr als seltsam aussehende Muster auf den Po.

Im schummrigen Wartebereich gibt es nicht einmal ein vernünftiges Café. Nur einen systemgastronomischen Standbauchladen mit grimmigem Servicepersonal. Ich warte auf meinen Kaffee, der noch einen Moment durch die Maschine laufen muss, um wieder warm zu werden (alles scheint heute Verspätung zu haben) und nage etwas an vertrocknetem, alten Backwerk. Fliegen möchte ich können. Wie ein Superheld. Wie oft hatte ich als Kind davon geträumt. Heutzutage findet man aufgrund um sich greifender Handy-Manie noch nicht einmal eine vernünftige Telephonzelle, um sich dafür umzuziehen zu können. Überhaupt scheint mir früher gerade alles irgendwie besser gewesen zu sein.

Wie sorglos es sich doch damals in den Tag hinein leben ließ. Gut, es wäre noch eine ganze Spur sorgloser gewesen, hätte man der damals anstehenden Mathematikarbeit schon die Bedeutung beimessen können, die man ihr heute rückblickend gerade noch zugestehen mag. Wie falsch man damals die Dinge doch bewertet hat. Wie verschoben alle Prioritäten waren. Herrjeh. Wie dumm ich damals war. Wie wenig ich die Chancen zu nutzen verstand, die mir damals offen standen. Gut, dieser Punkt hat sich bis heute eigentlich nicht so rasend viel geändert. Nun ja. Es ist schließlich auch schön, wenn es bei allen Turbulenzen hier und da noch ein paar Konstanten im Leben aufzuspüren gibt. Und doch.

In unserer Jugend waren wir frei und wussten es nicht, jetzt sind wir nicht mehr frei und wissen es. Und warten gebannt auf den Tag, an dem wir wieder frei sein werden, nur um dann festzustellen, dass wir nicht mehr können. Kurz lässt sich diese Erkenntnis wohl in einem einzigen Wort zusammenfassen: Midlife Crisis. Okay, das sind zwei Wörter. Aber – ich bitte sie: wo hätte uns Mathematik jemals schon eine Antwort auf die großen Fragen unseres Lebens geben können? Eben. Sie haben damals im Unterricht wohl auch mehr Interesse an der Mitschülerin neben Ihnen als dem sanft gerundeten Rechenergebnis an der Tafel gehabt. Ich kann das verstehen. Das mit dem Mädchen. Das mit dem Ergebnis meist weniger.

Es ist dies nun die Zeit – so wird gemeinhin postuliert – da sich ein Mann meines Alters einen schnittigen, im Bestfall roten Sportwagen zulegt und sich auf die Suche nach unanständig jungen, weiblichen Begleiterinnen begibt. Oder auch nicht mehr ganz so jungen; Hauptsache unanständig. Eine kurze Überprüfung meines Kontostandes verrät mir, dass scheinbar auch an dieser Stelle irgendetwas in meinem Leben grundlegend schief gelaufen sein muss. Vielleicht hat das ja auch etwas mit meiner regen Teilnahme am Mathematikunterricht früher zu tun. Ein schaler Seitenblick auf die hinter mir in der Schlange am Kontoauszugsdrucker wartende, haarbenetzte Hausfrau im Trainingsanzug lässt mich wehmutvoll an die endlos langen Stunden unter der Überschrift linearer Algebra zurückdenken. Vielleicht wird es doch langsam Zeit, erwachsen zu werden.

An dieser Stelle sollte jetzt mein rebellischer Geist einsetzen und heftig aufbegehren. Doch der scheint gerade angesichts der frühen Herbstdunkelheit ein kleines Nickerchen zu halten oder liegt mit Hexenschuss im Bett. Statt dessen werde ich beim Verlassen der Bank um Haaresbreite von einem roten Sportwagen erlegt, der unter dem Gelächter zweier, unanständig junger Mädchen auf der Rückbank und mit stark überhöhtem Tempo hinter der nächsten Hausecke verschwindet. Ich wünsche ihn in die nächstgelegene Radarfalle und stelle fest, dass ich das Leben nicht immer für gerecht halte. Dabei steige ich auf mein klappriges, rostzerfressenes Hollandrad und rumple über das Kopfsteinpflaster davon. Es beginnt leise zu regnen.

Wenn sie an dieser Stelle Mitleid und das unbändige Verlangen spüren, diesen armen, vom Schicksal so hart gebeutelten Mann an Ihr Herz zu drücken, so ist das durchaus Absicht. In Ermangelung roter Sportwagen fahren viele Alters- und Geschlechtsgenossen auf der Mitleidsschiene gar nicht so schlecht. Auch wenn der unterschwellige Apell an mütterliche Fürsorgeinstinkte in der Regel knapp an der Kernzielgruppe vorbeischrammt und eher grundanständige Frauen anzuziehen vermag. Kenner wissen, dass ich zwar ein altes Fahrrad besitze, damit aber höchst selten über Kopfsteinpflaster fahre. Und schon gar nicht bei Regen.

Dennoch komme auch ich nicht umhin, mich mitunter in finsterer Nacht an schummrigen Orten wiederzufinden, während ich mich – das Universum anklagend – rufen höre: „Kann das denn wirklich schon alles gewesen sein?“ Wie üblich hat das Universum darauf eine prompte Antwort parat. Wie auch in diesem Fall, in dem mir die mürrische Dame aus ihrem Bauchladen heraus zuraunt: „Ich hab doch gesagt, der Kaffee muss erst durchlaufen. Und nehmen sie gefälligst ihr klappriges Rost-Dingens da vor meinem Werbeschild weg; das verschreckt mir ja die Gäste.“

Doch das Universum ist nicht so. Es ist ganz anders. Und stellt einem, ganz unvermutet (und ohne dass man darum gebeten hätte), aus heiterem Himmel ein bezauberndbetörendes Wesen direkt vor die Nase. So dass man nur noch den Wunsch hat, in dessen wunderschönen Augen die Sterne zu zählen. Und sich freut, damals in Mathe nicht so aufmerksam gewesen zu sein, so dass man sich jetzt andauernd dabei verzählt. Denn dann kann man gleich wieder von vorne damit anfangen. Wie gern ich heute lebe.


Wird unser Held auf diese Weise jemals die Zahl der sichtbaren Sterne unseres Universums ermitteln können? Oder kommen noch ein paar dazu, wenn ihn sein klappriges Fahrrad beim nächsten Zusammenbruch spontan mit einem Laternenpfahl liiert? Wir werden es nie erfahren. Denn wir müssen gerade unseren roten Sportwagen versetzen, um all die Strafmandate  wegen Geschwindigkeitsüberschreitung bezahlen zu können ...


(c) 2011 verkomplizissimus

Sonntag, 28. August 2011

Haarige Angelegenheiten

 
Machen wir uns nichts vor: Die Zeiten ändern sich. Und das nicht nur beim Blick auf die Anzeige unserer Digitalchronometer oder dem Ziffernblatt der Bahnhofsuhr. Nein: Herbst ist der neue Sommer, Raider heißt jetzt Twix und eingekauft wird nur noch online. Da mutet es archaisch an, dass es noch immer Tätigkeiten gibt, die ganzen Körpereinsatz erfordern. Haareschneiden, zum Beispiel.

Ich denke, es war jene Äußerung dieser Frau auf dem Bahnsteig, mit der alles anfing. Gerade erst hatte mich die Liebe meines Lebens verlassen, die Frau, mit der ich Kinder zeugen, ein Haus auf einer einsamen Insel bauen und die aufregendsten Nächte meines Lebens verbringen wollte. Doch als ich sie nach ihrer Telefonnummer fragte, runzelte sie einfach nur die Stirn, drehte sich von mir fort und stöckelte von dannen. Vorbei an jener anderen Dame, die sich mir nun zuwandte. In ihren Bewegungen lag jenes aggressive Selbstbewußtsein einer Süßes witternden Septemberwespe. „Hey, ich mag Dich. Du siehst aus wie dieser Zauberer aus dem Fernsehen.“ Meine Hand zuckte zur Stirn, um unter dichtem Gewuschel nach der verräterischen Narbe zu suchen. „Wie hieß der noch?“, summte sie weiter, „Ach ja ... Catweazle ...“ Doch, ich glaube es war dieser Moment, in dem ich einen Entschluss fasste. Ich musste mir ernsthaft die Haare schneiden lassen.

Gemeinhin ist dies eine Problemlage, die mich eher selten trifft. Aus meinen alten Tagen als Schafscherer in Neuseeland habe ich mir einiges an Gerät erhalten, mit dem ich zum Behufe der Haupthaarverkürzung  dann selbst Hand anlege. Eines dieser Geräte funktioniert sogar elektrisch. Es gilt dann lediglich, die gewünschte Länge (verfügbar sind: zwölf, neun, sechs und null Millimeter) einzustellen und darauf zu achten, dass der Spannungsregler auch wirklich auf die Neuseeländischen 240 Volt und nicht die in zum Beispiel Surinam gebräuchlichen 127 Volt eingestellt ist. Sonst geschehen lustige Dinge.

Wie dem vorstehenden Gedanken zu entnehmen ist, gerät mein Leben in manchen Phasen immer wieder zu einer einzigen, logistischen Herausforderung. Und eine solche war es denn nun auch, die mich in den letzten Wochen hartnäckig von meinem Scherequipment getrennt hat. Das Schicksal und die Streikwilligkeit Deutscher Lokführer wollten es so. Verglichen mit Samson (dem biblischen, nicht diesem würstchenessenden Scheinbären aus der Sesamstraße, meine Güte) habe ich die Vorzüge wallender Haartracht allerdings nie wirklich nachvollziehen können. Wie mir erst kürzlich ein Würstchenglas nur zu deutlich vor Augen führte, dessen Vakuumverschluss den Fortbestand des Glasinhaltes erfolgreich zu verteidigen wusste. Damit das mit dem „vor Augen führen“ auch tatsächlich klappen konnte, musste ich allerdings zunächst die mir immer wieder ins Gesicht fallende Mähne zu einer Art Turmzopffrisur verdichten.

Mein Opa väterlicherseits war es, der mir seinerzeit einen jener großväterlichen Ratschläge erteilte: „Junge“, sagte er, „solltest Du Dir die Haare schneiden lassen wollen – egal wo Du auch sein mögest: gehe zum Hauptbahnhof. Dort gibt es Friseure, bei denen Du auch ohne Terminvereinbarung sofort bedient wirst. Die sind auf Laufkundschaft eingerichtet. Und da es immer mindestens drei Friseure gibt, die sich Konkurrenz machen, sind dort die Preise auch stets günstiger als anderswo.“ Da ich mich praktischer Weise ohnehin gerade auf dem Weg zu einem dieser Hauptbahnhöfe befand, beschloss ich, meinen ansonsten eher rebellisch veranlagten Widerspruchsgeist hintanzustellen und seinem ehedem gegebenen Rat zu folgen.

Nun ja. Es ist nicht immer schön, den modernen Wandel der Zeiten so deutlich anhand eigener Erfahrung nachvollziehen zu müssen. Vielleicht lag es ja auch an jener Nordrhein-Westfälischen Landeshauptstadt, deren Namen ich an dieser Stelle aus Diskretionsgründen lieber verschweigen möchte. Doch schon auf der Informationstafel des ameisenhaufengleichen Funktionsgebäudes mit Gleisanschluss ließ sich unter der Rubrik „F“ allenfalls noch der Begriff „Frittenbude“ (mit Verweis auf den Eintrag: „Schnellimbiss, siehe auch: Döner“) finden. Nun. Haha. Als gewiefter Marketingwortverdreher war dies natürlich noch lange nicht der Punkt, an dem ich aufgegeben hätte. Doch nein, auch unter den gesuchten Begriffen „Coiffeur“, „Hairstylist“, „Barbier-Studio“ oder sogar „Kopfgärtner“ fand ich keinerlei sachdienliche Hinweise. Es galt also, selbst die Haare in die Hand zu nehmen und laufend Ausschau zu halten.

Dieser Sommer hat nicht viele wirklich sommerliche Tage zu bieten gehabt. Es mag sich von selbst verstehen, dass der Tag, von dem ich hier berichte, einer war. Bald musste ich in einem schattigen Winkel Unterschlupf suchen, meinen gesäßlangen Pferdeschwanz auswringen und feststellen, dass es eben doch nicht für alles eine App gibt. Zumindest fand ich in keinem Store eine Anwendung, die mir jetzt – direkt aus dem Telefon – die gewünschte, kalte Kurzdusche bieten konnte. Da half auch keine Spielerei mit dem Vibrationsalarm. Bewegung erzeugt Wärme.

Ein Mangel an verschiedensten Angeboten, die deutlich zu einer Veränderung meines äußerlichen Eindrucks beigetragen hätten, war durchaus nicht zu beklagen. An drei Stellen hätte ich mir künstliche, mit Strass besetzte Fingernägel anbringen lassen können. Zu einem durchaus fairen Preis, wie ich fand. Auch hätte ich mich an quasi jeder beliebigen Stelle meines Körpers aufs Ausgiebigste tätowieren lassen können. Oder piercen. Auch branden. Mein Haar jedoch einfach abfackeln zu lassen, widerstrebte mir irgendwie.

Die weitere Suche in der Umgegend des Hauptbahnhofes brachte mir sogar noch die Bekanntschaft einiger interessanter Damen ein. Auch diese schienen um mein Wohlergehen aufs Äußerste besorgt zu sein und unterbreiteten mir Vorschläge, sich meiner auf ganz besondere Weise annehmen zu wollen. Was meist auch irgendwie etwas mit Besorgen zu tun hatte. Wovon sie so recht etwas verstünden. Ob meiner langen Haartracht offenbar das Opfer einer Verwechslung, wurde ich in dieser Gegend selbst auch von einigen Männern angesprochen. Es ist mitunter gar nicht so einfach, auch die fundamentalsten Missverständnisse ohne zu große Peinlichkeiten aufzuklären. So konnte das nicht weitergehen.

Ich wechselte meine Taktik. Und fragte jene Damen, ob nicht auch sie gerade vielleicht zufällig gewechselt hätten. Zum Beispiel aus dem Friseurfach zu dieser ... anderen Profession. Ich meine ... immerhin schien mir die nachhaltige Abwesenheit von Frisiersalons in dieser Stadt den Gedanken nahezulegen, dass vielleicht die Arbeitslosigkeit diese gefallenen, wenn sich mitunter auch recht grazil bewegenden Engel in ihr neues Gewerbe getrieben hatte. Uschi schließlich verstand genug Deutsch und Englisch, um mir auf meine Frage antworten zu können, ohne gleich mit weit aufgerissenen Augen einen horrenden Aufpreis zu verlangen. Sie rang mir das Versprechen ab, sofort nach Erledigung meiner Kopfarbeit zu ihr zurückzukehren und gab schließlich ihre Kenntnis hinsichtlich eines nur wenige Kilometer entfernten Herrenfriseurs preis. Ich steckte ihr einen Zehn-Euro-Schein zu, log sie an, dass ich natürlich wie der Wind zu ihr zurückeilen würde und drehte mich an der nächsten Straßenecke sogar noch einmal um, um ihr zuzuwinken. Sie winkte aus der Entfernung mit meiner Brieftasche zurück und verschwand in einem Hauseingang. Ich habe beide niemals wiedergesehen.

Man soll ja sein Herz nicht an irdische Güter hängen. Geld ist eine Illusion und es gibt Wichtigeres im Leben. Haare schneiden, zum Beispiel. Immer wieder über die Ausläufer meiner Zöpfe stolpernd, tänzelte ich voran und versuchte dabei, vermittels meines Telefons wenigstens die wichtigsten Kreditkarten sperren zu lassen. Schwindende Elektrizität machte mir hier einen Strich durch die Rechnung, aber gleich, wenn ich in der Frisierstube sitzen würde, konnte ich meinen Akku ja wieder an der Steckdose aufladen. So dachte ich es mir. Und – tatsächlich: nach kaum einer Stunde und einer Vielzahl interessanter, geradezu wegweisender Unterhaltungen stand ich vor der schlichten Glastür eines Haarschneiders. So verkündete es das Schild, das von innen an die Tür geheftet sanft im Wind der Klimaanlage schaukelte. Doch noch mehr stand dort zu lesen. Zum Beispiel die Erklärung dafür, warum sich die Tür so hartnäckig meinen Öffnungsversuchen widersetzte wie vor einigen Tagen noch das Würstchenglas. „Montags geschlossen“.

„Am Mondach sünn hüg alle in de Berufsschoole!“, tönte es mir fröhlich vom Cafétisch nebenan entgegen. Aha. Ich möchte jetzt nicht direkt als Bildungsfeindlich erscheinen, doch die spontane Äußerung meines Unmuts mag in diese Richtung gegangen sein. Wie egal es mir wohl sei, ob die Hand, die mein Haupthaar schert, zuvor noch Goethes Gedichte hielt oder an der Tafel Integralrechnungen verfehlte. „Ja - und der Chef? Muss der auch in die Schule?“, entfuhr es mir. „Nääh, Mondach habbisch frei, min Jong“, lachte es zurück.

Nein, es ist eine infame Lüge, dass ich in diesem Augenblick wimmernd vor diesem Mann zusammengebrochen wäre. Dass ich ihn bekniet hätte, bei mir Hand anzulegen. Von mir aus auch mit einer Scherbe der zerbrochenen Tasse, die mein Fall versehentlich vom Marmortischchen gerissen hatte. Ein Käfer wand sich in der kleinen Kaffeepfütze. Ich beneidete ihn. Käfer haben nur ganz, ganz kurze Härchen. Meistens am Bauch.

Nein, ich habe diese Situation gestanden wie ein Mann. Ich habe in meiner Hosentasche geforscht und ganze sieben Euro fünfunddreißig zu Tage befördert. Und ich habe mich auf den Weg in eine der naheliegenden, den Hauptbahnhof quasi umschäumenden Videotheken gemacht, um mir dort moralischen Beistand zu erheischen. Ich wollte mir das Musical „Hair“ kaufen. Und endgültig dem Berufsleben abschwören; einfach Hippie werden. Bestimmt würde ich diesen Film in einem dieser schummrigen Läden finden können. Immerhin kamen nackte Menschen darin vor.


Wird sich unser Held mit seinem Zopf in der Kassenrolle der Videothek verfangen und so sein unrühmliches Ende finden? Oder kann er seinem Schicksal noch einmal um Haaresbreite entgehen, einen Schluck vom hoch bleihaltigen, Düsseldorfer Leitungswasser nehmen und daraufhin für immer aller Frisur- und Zahnprobleme obledig sein? Wir werden es nie erfahren. Denn wir sind viel zu sehr damit beschäftigt, uns über die kleine Locke in unserer Hühnersuppe zu ärgern ...


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Sonntag, 31. Juli 2011

Von Jägern und Nestbauern

Die Anthropologie lehrt Unterscheidungen; wie die zwischen Jägern und Sammlern oder zwischen Nomaden und Sesshaften, zum Beispiel. All diesen Unterscheidungen ist die Eindeutigkeit gemeinsam, mit der eine Zuordnung menschlichen Verhaltens möglich ist; Zwischenformen spielen eine nur untergeordnete Übergangsrolle. Es ist nun der Verdienst jüngster Zivilisationstechniken der letzten Jahrzehnte, eine weitere dieser anthropologischen Kategorien hinzugefügt zu haben: Die Unterscheidung zwischen Experten. Und den anderen.

In den guten, alten Tagen des Pleistozän, da man sich auf den Spuren des Mammut oder eines flauschigen Machairodus durch die weiten Steppen bewegte, traf man zuweilen auf den einen und auch den anderen Jäger-Kollegen. Und insofern dieser nicht kleiner und schwächer war, also als Appetithäppchen für Zwischendurch in Frage gekommen wäre, simpelte man gern ein wenig fach, bestaunte wechselseitig die mitgeführten Werkzeuge und diskutierte in der Jagd angewandte Erfolgsmethoden. Bis heute hat sich daran eigentlich nicht viel geändert. Außer vielleicht, dass schwächere Passanten heute in geringerer Anzahl verspeist werden (die Angst vor den Cholesterinen?) und dass solche Treffen nicht in den weiten Fluren eiszeitlicher Steppen, sondern eher an anderen Orten stattfinden. Zum Beispiel in den immerhin auch meist recht ausladenden Fluren von Baumärkten.

War es doch dort, das ich letztens auf meinen guten, alten Bekannten Georg traf. Da ich zum Einen gerade nicht hungrig war und er mich zum Anderen nicht nur um Haupteslänge überragte, sondern auch sonst einen etwas trainierteren Eindruck machte als ich, konnten wir uns schnell dem Inhalt seines Einkaufswagens zuwenden. Tapetenrollen waren dort zu sehen; in bestürzender Vielfalt an Farben, Formen und Mustern. „Du willst renovieren?“ Georg strahlte über das ganze Gesicht. „Ja, vor fast zwei Monaten habe ich sie kennengelernt. Und jetzt wollen wir zusammenziehen.“  Meine  grundsätzlichen Vorbehalte gegenüber der Dauerhaftigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen hintanstellend war es ein anderer Punkt, der mir leichtes Unbehagen bereitete. Ich beschloss, diesen als möglichst unverfängliche Frage zu formulieren: „Und was – zum Teufel – willst Du mit diesen ganzen Nägeln da in Deinem Einkaufswagen anstellen?“ „Nun ja“, so seine Antwort, „irgendwie muss ich die Tapeten ja auch an den Wänden festmachen, oder?“

Geneigte Leserinnen und Leser werden einmütig eingestehen müssen, dass eine so dermaßen offen zur Schau gestellte Unkenntnis bezüglich einfachster Aufgaben im Zuge einer Wohnungsrenovierung kaum eine andere Wahl als die lässt, Sätze wie den folgenden zu sagen: „Kann ich Dich vielleicht ein wenig bei der Planung Deiner Baumaßnahmen beraten?“ Auch, wenn dann fast zwangsläufig eine so unerfreuliche Antwort erfolgt wie: „Klar, wir können jede Hand gebrauchen! Toll, dass Du mit anpacken willst!“

Es war beileibe nicht das erste Mal, dass ich so dermaßen komplett missverstanden wurde. Genauso wenig war es das erste Mal, dass es aus dieser Nummer so absolut gar kein Entrinnen mehr gab. So fügte ich mich denn in mein Schicksal und den Einkäufen Georgs heimlich noch ein paar Päckchen Tapetenkleister hinzu. Sagte alle für das Wochenende geplanten Blind-Dates ab, verschenkte meine Backstage-Karten für das anstehende „Take That“-Konzert (wird Robbie diesmal halt ohne mich losziehen müssen; er sprach am Telefon ohnehin davon, dass er sich „nicht so fühle“) und verschob meine Segelscheinprüfung auf den nächsten freien Termin im Sommer 2013. Trug den Termin im Kalender ein und kaufte mir geschwind noch ein neues Paar Arbeitshandschuhe.

Dass ich eben diese zuhause vergessen hatte, fiel mir erst auf als ich mich – in aller Herrgottsfrühe und bis zum Abwinken motiviert – vor Georgs neuer Haustür eingefunden hatte. Auf dem Weg hierher hatte ich mir eingeredet, dass es sicherlich nett sei, viele, neue Leute kennen zu lernen. Wie Georgs neue Freundin zum Beispiel, deren bildliche Darstellung auf verschiedenen Profilen sozialer Netzwerke mich durchaus hatte überzeugen können. Vielleicht hatte sie ja auch eine nette Freundin.

Hatte sie. Und mit eben der war sie, wie Georg mir euphorisch mitteilte, gerade unterwegs, um passende Möbel auszusuchen. Durch diesen gewieften Plan hätte er uns die beiden Damen aus dem Weg geschafft, auf dass wir zwei uns zügig und ungestört ganz der handwerklichen Arbeit hingeben könnten. Ich lobte ausschweifend seine Umsicht und hielt auch ansonsten nicht damit hinter dem Berg, wie sehr ich mich jetzt darauf freuen würde, so richtig ranzuklotzen. Er nickte und schlug mir fest mit der Hand auf die Schulter. Draußen begann es zu regnen. Ironie war noch nie wirklich Georgs Stärke gewesen.

Die Arbeiten schritten schnell voran und binnen kurzem war es uns gelungen, die Wohnung, alle in ihr befindlichen Gegenstände und schließlich uns selbst in ein undurchdringliches Spinnennetz aus Malerklebeband und Abdeckfolie zu verwickeln. Georg trug seine Freude darüber, auf so professionelle Weise unterstützt zu werden, offen zur Schau. Sein über das ganze Gesicht ausgebreitete Strahlen knickte auch in dem Augenblick nicht ein, in dem ich – unter Zuhilfenahme einer Klappleiter und handelsüblicher Erdanziehung – einen kleinen Durchbruch in die Wand zwischen werdendem Wohn- und noch schlummerndem Schlafzimmer schuf. Ich wies ihn auf den innenarchitektonischen Pfiff hin, den die doch eher langweilige Wohnung dadurch bekommen würde und beruhigte ihn dahingehend, dass die breite Blutspur, die mein Gesicht beim Fall entlang der Wand hinterlassen hatte, ja gleich übertapeziert würde. Eine Maßnahme übrigens, die meiner Wange und rechten Schläfe sicher auch gut zu Gesicht gestanden hätte.

Ich überließ Georg den Kampf mit dem Tapeziertisch und widmete mich zum einen auf rührende Weise der Kleisterherstellung und zum anderen meinen dunklen Gedanken. Es hatte mich viel Zeit und Überzeugungskraft gekostet, mit Georg übereinzukommen, dass es weder nachhaltig noch klug noch überhaupt denkbar wäre, Tapeten an die Wand zu nageln. Tapeten gehörten geklebt. Und Georg gehörte auch eine geklebt, denn statt sich mannhaft in sein Schicksal zu fügen und in Stille den Tisch aufzubauen, wurden seine Flüche nur durch andauernde Fragen der Art: „Muss ich das jetzt hier einhaken, oder was? Gehört das so? Kannst Du mal schauen?“ unterbrochen.

Ich ließ den Kleister vor sich hin quellen und war gerade dabei, unter den von Georg erworbenen Tapeten die mit dem noch erträglichsten Muster herauszusuchen, als er mit einem abstrakten Kunstwerk unter dem Arm durch die Zimmertür auf mich zu watschelte. Dieses Geflecht sichtlich dekonstruierter Holzflächen und kühner Drahtverwicklungen stellte er in die Mitte des Zimmers auf und nannte es: „Tapeziertisch“. Unter der Wucht des Absetzens nachpendelnd schwang es meditativ auf und ab. Seit Günter Haese fand kinetische Kunst selten so klaren Ausdruck. Doch noch bevor ich etwas in dieser Richtung äußern konnte, tat das Ding einen gewaltigen Satz auf mich zu und schnappte begierig nach der Tapetenrolle, die ich gerade in der Hand hielt. Meine ebenso behände wie reflexartige Ausweichbewegung wurde jäh durch den hinter mir stehenden Kleistereimer gestoppt. Die ungewohnte Nähe meiner Augen zum Boden ließ mich die vielfältigen, geometrischen Muster erkennen, mit denen sich der Kleister durch den langen Riss in der Abdeckfolie hindurch in den Fugen des historischen Parkettbodens verteilte. Über mir stand Georg und bemerkte trocken: „Also – Nägel hätte man jetzt einfach zusammenfegen können ...“

Wenige Stunden nach Einbruch der Dämmerung war es gelungen, sämtliche Wände der Wohnung mit Papier zu bekleiden. Das Spiel gegenläufiger, immer wieder durch Risse und überraschende Wendungen der Tapetenbahnen gebrochene Muster gab der Wohnung etwas Revolutionäres, Psychedelisches. Georgs Zusammenleben mit seiner neuen Freundin würde sicher ein einziger Rausch werden. Sollte sie dieses Mustermosaik aushalten können, war sie vielleicht die richtige für ihn. Die kleine, innovative Durchreiche zum Schlafzimmer hatten wir inzwischen im Übrigen einfach übertapeziert. Doch damit nicht genug: von beiden Seiten her sollte ein Bild jeder Versuchung entgegenwirken, die Haltbarkeit der Mustertapete über dem Loch mit den Fingerspitzen testen zu wollen. Man kennt dieses Prinzip von der praktischen Bläschenfolie, die unwiderstehliche Lust darauf macht, die Bläschen zwischen den Fingern platzen zu lassen. Im Schlafzimmer sollte ein Morandi hängen, für das Wohnzimmer schlug ich (ob des ohnehin schon eher unruhigen Musters) Mondrian oder Miro vor.

Leicht zu erraten, dass Georg schnell mit einem Hammer und seiner Nageltüte bei der Hand war. Mitleidig sah ich ihn an. „Mit Deinen Nägeln kommst Du hier nicht weit. So ein richtiges Bild, das braucht einen Dübel.“ Und ich griff überlegen lächelnd in meine Umhängetasche. Georgs Pupillen weiteten sich. Keine ungewöhnliche Reaktion; ich hatte sie schon manches Mal zuvor erleben können. Denn in meiner Hand hielt ich meine Bohrmaschine. Die heilige Hilti. So nannte ich sie. Denn wir hatten schon viel zusammen erlebt. Und überlebt. Granit, Elektrokabel, Warmwasserleitungen. Kein Material der Welt war der Kraft meiner Bohrmaschine gewachsen gewesen. Ich löste eine sechser Steinbohrspitze aus dem goldbeschlagenen Brokatfutteral. Eingedenk meiner Erfahrungen beim Leitersturz schien mir das angemessen; schließlich wollte ich nur ein kleines Löchlein bohren. Und nicht gleich das Haus niederreißen. Mit sanftem, kompetentem Klicken rastete das Metall im Bohrkopf ein. Der kleine Probelauf erfüllte die Wohnung mit dem gewohnten, gleichmäßig kraftvollen Schnurren des Turbogetriebes. Wäre ich diese Wand gewesen – ich hätte eine Gänsehaut bekommen. Ehrlich gesagt: ich bekam auch ohne diesen Umstand eine. Mit dem gelassenen Lächeln des routinierten Scharfrichters setzte ich beim sorgsam bleistiftgezeichneten Punkt an. Und zog mit Bedacht den Auslöser durch.

Es mag ein Kieselstein gewesen sein. Oder ein verborgener Stahlträger. Ein Bombensplitter aus dem letzten Weltkrieg. Oder dem davor. Wer steckt schon drin, in so einer Wand. Meine Hilti zumindest nicht. Getreu ihrer Natur als Schlagbohrmaschine versetzte sie mir einen heftigen Stoß, der mich nach hinten taumeln ließ, und flog in hohem Bogen aus dem – glücklicherweise geöffneten – Fenster hinaus. Um sich auf dem harten Pflaster des Innenhofes in etwa erbsengroße Einzelteile zu zerlegen. Die mythologisch aufgeladene , stoßartig vorgetragene Unmutsbekundung, die mir daraufhin – in angemessener Lautstärke - entfuhr, war wohl der Grund dafür, dass die Platane im Innenhof spontan sämtliche Blätter verlor, das Rentnerehepaar aus dem dritten Stock gegenüber Hand in Hand aus dem Fenster sprang und der Betreiber der kleinen Sushi-Bar um die Ecke noch am gleichen Abend in aller Form das Seppuku-Ritual vollzog.

Der erste Eindruck soll ja oft der entscheidende sein. Wahrscheinlich bin ich deshalb nie ganz mit Georgs neuer Freundin warm geworden. Versteinert und kreidebleich stand sie im Türrahmen und blickte mich mit einem Ausdruck in den Augen an, der eigentlich eher freilaufenden Säbelzahntigern oder ausgedehnten Buschbränden vorbehalten bleiben sollte. Versöhnt wurde sie jedoch sogleich beim Blick auf Georg, der zwischenzeitlich den heimlich eingeschmuggelten Kunstdruck „Zebegen 1964“ von Victor Vasarely mit Tesafilm an der Wand befestigte. Das Motiv schmiegte sich nahtlos in die umgebenden Muster der Tapete. Sie war hingerissen und fiel ihrem Schatz in die Arme. Die beiden passten wirklich gut zusammen.

Besser gelungen war der erste Eindruck ihrer wirklich netten Freundin, die ihr schwerbepackt nachfolgte, sobald sie den Türrahmen freigegeben hatte. Ich sprang ihr bei, um sie von der Last überquellender Einkaufstüten zu befreien, die folgerichtig unter meinem Zugriff zerrissen und eine Flut unsäglicher Dekoartikel aus Kunstharz und Porzellan über den Flur ergossen. Entschuldigend und verlegen blickte sie mich an. Durch ein Lächeln ließ ich sie erkennen, dass ich niemals auch nur auf den Gedanken gekommen wäre, dass sie es gewesen sei, die diese Dinge ausgesucht hätte. In ihren Augen stand so etwas wie Dankbarkeit. Es stellte sich heraus, dass sie meine Tollpatschigkeit „irgendwie niedlich“ fand und allgemein eher eine Schwäche für Geisteswissenschaftler und Lyriker  statt für handwerklich begabte Männer hegte. Und gemeinsame Außenaktivitäten jedem Einrichten gemeinsamer Wohnungen vorzog. Wir hatten sogar denselben Lieblingsitaliener. Dort gingen wir dann auch alsbald hin. Und überließen Georg samt Freundin dem Glück gemeinsamen Nestbaus. Wir beschlossen, sie in naher Zukunft erst einmal nicht zu besuchen. Sollten sie sich ihrer Neigung für wirre Tapeten- und Beziehungsmuster frei hingeben. Wir bevorzugten andere Formen der Expertise. Denen wir uns jetzt erst einmal ausgiebig hingeben wollten ...

Werden sich die vielen Italienischstunden für unseren Helden jetzt endlich bezahlt machen? Oder lauert doch schon hinter der nächsten Straßenecke ein missgelaunter Mammutbulle? Wir werden es nie erfahren. Denn wir müssen erst einmal unseren Daumen verarzten, den wir beim Tapezieren leider mehr als einmal mit dem Hammer getroffen haben ...


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Mittwoch, 22. Juni 2011

Alles Gute stompt von oben


Was sich die Menschen nicht alles für Stress machen. Mit Hauptmietern, Nebenmietern, Untermietern ... mir fehlte dafür immer das rechte Verständnis. Bis ich unfreiwillig die letzte, im eben genannten Portfolio noch offene Option am eigenen Leib erfahren durfte. Oder vielmehr: erlaufen. Denn in die über mir freistehende Wohnung ist endlich jemand eingezogen. Und jetzt fehlt mir sogar auch noch das linke Verständnis.

Mit dem Verstehen ist das ohnehin so eine Sache, in letzter Zeit. Denn wie schon am Tag des Einzuges eifriges Möbelrücken bis in die späteren Morgenstunden des Folgetages hinein bewies, war es wohl gar nicht so leicht, sich für eine überzeugende Anordnung selbiger zu entscheiden. Möbel, nicht Tage – die bringen ihre eigene Anordnung automatisch mit. Folglich also wurde die Entscheidung über die angemessene Aufstellung einfach offengelassen. Und wurden fürderhin mehrmals am Tag neue Kombinationsmöglichkeiten ausprobiert. Stundenlang. Immer wieder alles neu arrangiert. Was mich wiederum eher derangierte. Doch. Dies sind die eher harmlosen Begleiterscheinungen, die sich ergeben, sobald man unter Menschen wohnt. Oder es zumindest versucht.

Der Legende nach hat Karl Marx seinem Bartfreund Friedrich Engels (von Erotik verstehen viele Strömungen der Linken nichts) die Gesamtausgabe des „Kapitals“ nicht nur in drei Bänden, sondern auch in ständigem Auf- und Abgehen diktiert. In einem Moskauer Museum soll sogar der Teppich ausgestellt sein, den er dabei durchgelaufen hat. Ob jene, die ihn knüpften, bereits die Volljährigkeit erreicht hatten und gerecht entlohnt wurden, ist nicht überliefert. Doch ich schweife ab. Denn den Aktivitäten nach zu urteilen, die sich seit Neuestem über mir abspielen, steht zu vermuten, dass uns demnächst eine profunde Fortsetzung ins Haus steht. „Das Kapital IV – Die Imperialisten schlagen zurück“ ... oder so ähnlich. Zumindest dem Laufpensum nach bleibt dabei offen, ob die ehedem schlank gewählte Form von insgesamt nur drei Bänden dieses Mal ausreichen wird. Wer sich ein wenig mit dem Schaffen von George Lucas auseinandergesetzt hat, kennt meine schlimmeren Befürchtungen. Die schlimmsten noch nicht. Die kamen erst später.

Der mehr als deutlich weibliche Name am neuesten Klingelschild der Tafel neben der Hauseingangstür (gegen welche das zentrale Schaltpult der Reaktorsteuerung von Fukushima wirken mag wie ein Flaschenöffner im Vergleich mit der ihn notwendig machenden Abfüllanlage) deutet dem eingeweihten Leser bereits an, was sich da ebenso bahnt. Denn ich hegte mittlerweile den strengen Verdacht, dass meine Übermieterin weniger politisch umwälzende Bücher ersann, als vielmehr für den Laufsteg zu proben. Oder für einen Werbespot. Für holländischen Käse, wahrscheinlich. Denn was sie dabei an den Füßen trug: das konnten nur diese schweren, handgeschnitzen, massivhölzernen Klompen sein. Mit dem ungefähren Klangvolumen eines leergepumpten Supertankers. Hätten die steten Vibrationen sich allein darauf beschränkt, mein Geschirr im Schrank zu zertrümmern – wie leicht ist das noch zu verschmerzen gewesen. Ich mochte es ohnehin nie wirklich gut leiden. Doch dass unter der massiven Einwirkung der Schallwellen von oben der Luftdruck in meinem Zimmer andauernden Schwankungen unterworfen war, hat schließlich vor allem meinen Zimmerpflanzen weniger gefallen. Sie gingen ein und ich die Wände hoch. Auch wenn die Schallwellen mich immer wieder hinuntertrieben.

Ich bin ein Mensch, der dazu neigt, nicht vorschnell zu urteilen. Gern lasse ich andere Menschen auf mich zukommen, ohne mir gleich ein festes Bild von ihnen machen zu müssen. Jedem will ich die Chance geben, zu sein, wie er eben ist und ihn auch genau so wahrzunehmen. Die in der eigenen Vorstellung gebildeten Filter sind oft im Nachhinein nur noch schwer zu überwinden. Besonders Äußerlichkeiten werden dabei meist überschätzt. Doch war es einer meiner raren Freunde, der mir, kurz bevor er das durch die lauten Stampfgeräusche unmöglich gewordene Telephonat abbrach, noch schnell den Hinweis auf den Disney-Film „Fantasia“ zubrüllte. Seither bekam ich dieses Bild eines über mir im rosa Tutu vor sich hintanzendes Nilpferdes nicht mehr aus meinem Kopf.

Es mag eben dieses Bild gewesen sein, das mich letztendlich auch von der Idee mit den mutmaßlichen Laufproben für den Catwalk abbrachte. Wer je eine Katze laufen gehört hat – dem glaube man zunächst einmal nicht. Denn Katzen verstehen es, sich vollkommen geräuschlos zu bewegen. Und das mit nahezu sprichwörtlicher Eleganz. In sanften, fließenden Bewegungen schweben sie über den Boden, um einen dabei von Zeit zu Zeit genauso wohlwollend wie herablassend anzublinzeln. Ich mag Katzen. Derzeit würde es keine bei mir aushalten. Das Gehör einer Katze umfasst 10,5 Oktaven und übertrifft den Hörsinn des Menschen damit um ein Vielfaches. Selbst im Tiefschlaf nehmen Katzen feinste Geräusche wahr. Wobei ich ihnen dahingehend in meinen verzweifelten Tiefschlafversuchen der letzten Zeit wohl nur um Weniges nachstand. Auch, wenn die mich umgebenden Geräusche zumeist – zugegeben – alles andere als fein waren. Von besonderer Durchdringlichkeit haben sich zum Beispiel die scheinbar gerade erst erworbenen Stöckelschuhe erwiesen. Die wollen schließlich eingelaufen werden. Und das werden sie. Direkt auf meinen freiliegenden Nervenbahnen. Auf. Und ab.

Letztendlich blieb in diesen Nächten so manches Mal kein anderes Mittel als die Flucht. Lang ausgedehnte Spaziergänge durch die zwischen zwei und sechs Uhr morgens zumeist ausgestorbenen Straßenzüge der Nachbarschaft brachten Linderung und manche neue Bekanntschaft. Zum Beispiel mit den netten Jungs der Bürgerwache und den Polizeistreifen, die sich aber mittlerweile weitestgehend an meine nächtlichen Streifzüge gewöhnt haben. In den frühen Morgenstunden kehre ich dann meist Heim, um vor der Arbeit noch ein paar Minuten Schlaf zu ergattern. Ganz leise schleiche ich mich ins Haus, um meine Nachbarin von oben nicht aus Versehen zu wecken. Darauf reagiert sie nämlich mit genau so nervösem wie ausgiebigem Hin- und Herlaufen. So dass ich gleich wieder hinunter auf die Straße kann. Um dann später noch einmal wieder zu kommen.

Und so komme ich dann auch jetzt wieder zurück. Auf meine Befürchtungen, nämlich. Genauer gesagt: auf die schlimmsten; die standen ja noch aus. Man mag sich meine Empfindungen und Gedanken ausmalen, die mich in dem Augenblick erfassten, als ich aus dem zum neuen Klingelschild gehörenden Briefkasten den Werbekatalog einer ortsansässigen Flamenco-Schule herausragen sah. Zu meinem chronischen Schlafentzug hinzuaddiert war dieser Moment einfach ein bisschen zu viel für mich. Wieder zu mir gekommen bin ich durch die zarte Berührung einer Hand auf meiner Schulter und die besorgte Frage, ob alles mit mir in Ordnung sei. Ich konnte nur verhalten nicken, denn beim Anblick der zu Berührung und Frage gehörenden Erscheinung hatte es mir schlichtweg die Sprache verschlagen. Hatte ich die Mühsal und Plage meiner irdischen Existenz endgültig von mir abgeworfen? War dies ein Engel? „Ich bin gerade erst hier eingezogen; ich glaube, wir haben uns noch nicht getroffen ...“

Meinem Kopf war sämtliches Blut entzogen, um sich in anderen Gegenden meines Körpers zu sammeln. In der Brust, in der Herzgegend, um genau zu sein. Keine Ahnung, was Sie schon wieder vermutet haben. Langsam richtete ich mich vollständig auf. „Willkommen ...“, das war wohl so ziemlich das einzige, was ich über meine Lippen brachte. Und ein munter originell eloquentes: „Geht schon wieder ...“. Mit einem Lächeln wandte sie sich von mir ab und dem strahlenden Frühsommertag vor der Haustür zu. „Gewiss treffen wir uns ja bald einmal wieder!“, rief sie mir noch im Gehen zu. Oh ja, konnte ich nur denken. Oh. Ja.

Das war heute Morgen. Seitdem sitze ich an meinem Schreibtisch und verfasse eine Eingabe an die Hausverwaltung. Empöre mich über die schluderige Bauweise dieses Hauses, in welchem ja scheinbar nicht einmal eine Bettfeder zu Boden fallen könne, ohne dass sich Risse in den Kellerwänden bilden. Außerdem erkundige ich mich vorsichtig, ob nicht vielleicht - ganz zufällig - gerade eine Wohnung zwei Etagen über meiner frei geworden wäre. Ich gebe zu, dass ich schon recht lange an diesem Brief herumformuliere. Denn eigentlich warte ich nur auf das zurückkehrende, vertraute, anheimelnde Geräusch tänzelnder Schrittchen über mir. Habe ich schon eine feine Flasche Rotwein bereit gestellt, um mich noch einmal in aller Form bei dieser reizenden, neuen Mitbewohnerin einzuführen. Nachher gehe ich zu ihr. Und - wer weiß: vielleicht hat sich dann ja auch meine Anfrage bei der Hausverwaltung schon von selbst erledigt. Wenn wir sowieso bald zusammenziehen ...


Wird die nachweislich schwache Zimmerdecke den strukturellen Erschütterungen mutmaßlich bald herunterfallender Tröpfchen (Rotweintröpfchen, wie ich betonen möchte!) standhalten? Oder wird unser Held endlich den lange fälligen Nachweis erbringen können, dass Liebe nicht nur blind, sondern manchmal auch beinahe taub machen kann? Wir werden es nie erfahren. Denn wir sind viel zu sehr damit beschäftigt, unsere eigene Übermieterin davon zu überzeugen, dass Yoga-Übungen viel besser geeignet sind das karmische Konto aufzuladen als Stepptanzen ...


(c) 2011  verkomplizissimus

Donnerstag, 9. Juni 2011

Der Gandhi-Ansatz

So lange ist es noch gar nicht her, da ist es einem großen, kleinen Mann gelungen, einen ganzen Sub-Kontinent gewaltfrei vom kolonialistischen Joch zu befreien. Als probates Mittel in diesem Zusammenhang erwies sich vor allem der öffentliche Hungerstreik. Ich finde diesen Ansatz sympathisch und erwäge, ihm nachzueifern. Zumal in diesen Tagen. Schließlich ist es dann am Ende doch einigermaßen beruhigend zu wissen, woran man letztendlich gestorben ist.

Nicht erst seit ich durch direktimportierte Nashi (Pyrus pyrifolia) meine Nachttischlampe ersetzen und so eine Menge Atomstrom sparen konnte (schließlich leuchten die nachts so stark, dass es zum Lesen gerade ausreicht), setze ich mich mit Lebensmitteln auseinander. Sie auf der einen, ich auf der anderen Seite des Tisches. Mitunter nur durch Glas, manches andere Mal durch fein ziselierte Bleiplatten getrennt. Statt mit Messer und Gabel ertappe ich mich immer wieder dabei, mich dem, von dem ich mich ernähren soll, mit Geigerzähler, Petrischale und Mikroskop zu nähern. Quod me nutrit, me destruit. Nie war dieser Satz aktueller als heute.

Mancher Verzicht fällt mir eher leicht. Seit mir bewusst gemacht wurde, dass es 14 Kilogramm Getreide braucht, um ein Kilo Rindfleisch wachsen zu lassen, ja, für die gleiche Menge Schweinefleisch sogar bis zu 60 Kilogramm Mais aufzuwenden sind, erfreue ich mich lieber am lustigen Spiel der Ferkel in Amerikanischen Kinderfilmen als an blutigen Überresten toter Tiere auf meinem Teller. Für die „Herstellung“ ein halben Kilos Rindfleisch werden etwa 6.810 Liter Wasser verbraucht, für einen Burger von 150 Gramm immerhin 2.500 Liter. Ein halbes Kilo Kartoffeln ist dagegen schon für 450 Liter Wassereinsatz „zu haben“. Nur bei besonders hartnäckigen Erkältungskrankheiten greife dann auch ich einmal zum Schnitzel: um mir den Gang in die Apotheke zu ersparen. Allerdings sind Krustentiere, vor allem aus Asiatischen Regionen eingeführt, oder auch handelsübliche Lachserzeugnisse noch um einiges effektiver, da hier die Ratio zwischen Eiweiß und Antibiotikum noch vorteilhafter für kurzfristige Genesungsanliegen ausfällt.

Ausfälle sind natürlich nie ganz auszuschließen. Der Nachweis polychlorierter Kohlenwasserstoffe in meinen Frühstückseiern, eigens von mir unter Verbrennung mehrerer Liter Otto-Kraftstoff vom Biohof geholt, ließ zum Beispiel mich ausfallend werden. Da konnte mich dann auch der Hinweis, die Eier seien schließlich aufgrund der durch PCB-Einwirkung immer dünner werdenden Schale heutzutage viel einfacher zu schälen, nicht mehr wirklich ruhiger werden. Ruhiger machen mich andere Dinge. Zum Beispiel das Leitungswasser meiner Heimatstadt, das nach letzen Messungen eine fein ausgewogene Mischung aus Tranquilizern und Anti-Depressiva in an sich verschreibungspflichtiger Konzentration enthält. Und das fast gratis und ganz ohne Rezept. Da soll noch einmal jemand behaupten, die Politik hätte keine Rezepte mehr gegen die allgemein um sich greifende Niedergeschlagenheit.

Tatsächlich umgehauen hat mich aber nun anderes. Und das sind die Auswirkungen der Hysterie, die in immer neuen Wellen die Menschen um mich herum erfasst. Ich meine – bei so einem Bakterium, da handelt es sich immerhin noch im weitesten Sinne um Biomasse. Und die kann – ganz anders, als all die Furane, Dioxine und Schwermetalle, die wir jeden Tag durch Essen und Trinken so zu uns nehmen - immerhin noch in vielen Fällen erfolgreich verdaut und einfach ausgeschieden werden. Vor allem letzteres funktioniert ja – wenn man den Presseberichten zum Symptomverlauf folgt – relativ umfassend. Doch. Nein – hier liegt ja jetzt: eine akute Gefährdung vor. Anders als bei Ausläufern der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (in Form dargereichten Rindersteaks eher unter der Bezeichnung „BSE“ bekannt), treten die Folgen sofort und sichtbar ein. Zumindest in den Nachrichten. Und beim Rinderwahnsinn beträgt die Inkubationszeit immerhin bis zu 35 Jahre. Da bleibt es zweifelhaft, ob ein so gesegnetes Alter hinsichtlich der bedrohlichen Ernährungssituation überhaupt noch zu erreichen ist.

Doch Anderes wurde erreicht. Zum Beispiel hat man mich von meinen Hauptnahrungsquellen schlichtweg abgeschnitten. Ich wäre ja durchaus bereit, dem Schicksal trotzig die Stirn zu bieten – nur: man lässt mich ja gar nicht mehr. Die Auslagen in den Gemüseabteilungen bieten allenfalls noch hier und da ein paar einsam dahinwehende Spinnweben. Und es ist gar nicht so einfach, diese vor dem Verzehr so gründlich abzuspülen, wie es überall empfohlen wird. Gestern konnte ich immerhin noch im Gemüsegarten eines Nachbargrundstücks ein paar Radieschen klauen und so den ersten Symptomen des beginnenden Skorbut entgegenwirken. Auch die Blütenblätter des Hahnenfussgewächses (Ranunculus ficaria), nach dem jene Krankheit ursprünglich einmal benannt wurde, enthalten eine hohe Dosis an Vitamin C. Wenn man denn die Pestizide in Kauf nehmen mag, die städtische Ordnungsämter fleißig auf das aufbringen, was im Behördendeutsch als „standortgerechte Spontanvegetation“ bezeichnet wird.

Fast mag man rufen: „Ätschibätsch“. Schließlich waren doch auch Sie sicher unter den Millionen von Endverbrauchern, die sich mit Eingaben an die Futtermittelindustrie gewandt haben. Um diese davon zu überzeugen, dass sich Rindfleisch viel schneller und billiger „produzieren“ lässt, wenn man geriebene Schafskadaver an die öden und blöden Grasfresser verfüttert. Und Hühner viel fetter werden, wenn man ihrem Futter Fett direkt beimischt. Und seien es die Abfälle aus der Schmiermittelproduktion. Wo gehobelt wird, fallen ja schließlich auch Späne. Wie – Sie waren es auch nicht? Mit diesen Vorschlägen? Hm. Wer denn dann bloß? Seit der Verfilmung des Romans „New York 1999“ unter Mitwirkung von Charlton Heston und unter dem Titel „Soylent Green“ in die Kinos gekommen, war industrielle Nahrungsmittelproduktion in der Phantasie der Menschen nicht mehr so einfallsreich. Und wird doch immer wieder von der heutigen Realität um Längen überholt.

Die herrscherische Willkür der Englischen Kolonialherren gegenüber den Völkern Indiens war jeden Tag spürbar. Wir räkeln uns derweil als Frösche im lauwarmen Wasser. Wirft man eine solche Amphibie in einen Topf sprudelnd kochender Flüssigkeit, wird sie sofort wieder herausspringen. Erhöht man hingegen die Temperatur in kleinen Schritten, bleibt sie so lange sitzen, bis sie vollkommen zerkocht (liebe Kinder: bitte nicht selbst ausprobieren. Es gibt doch nur noch so wenig Frösche). Die kochende Wut, die mich immer wieder überkommen mag, wenn ich mir Zusammenhänge vor Augen führe, macht es schwer, dem gewaltfreien Ansatz des „Satyagraha“ Gandhis zu folgen. Eher bekomme ich bei diesem Wort schon wieder Appetit auf Indisches Essen. Sprosse für Sprosse die Leiter des Vergessens hinauf.

Das Dumme an meinem protestgeborenen Hungerstreik ist der beinahe vollkommene Mangel an Öffentlichkeit. Abgesehen von meiner lieb und teuer gewordenen Änderungsschneiderei, die in regelmäßigen Abständen große Stücke Stoff aus meinen Kleidungsstücken entfernt, damit sie mich bei aufkommenden Sommerbrisen nicht immer wieder davonsegeln lassen, bleibt die Anteilnahme der umgebenden Menschen begrenzt. Jeder pflegt seinen eigenen Ärger und seine eigenen Sorgen. Wie mein Nachbar zum Beispiel, der verzweifelte Jagd auf virtuelle Maulwürfe macht. Weil die immer seine Radieschen wegfressen. 

Folgen wir also dem gewaltfreien Weg Gandhis und halten beharrlich an der Wahrheit fest. Dafür nämlich steht „Satyagraha“. Das ist die Waffe der geistig Starken, um an das Gewissen und die Einsicht des Gegners zu appellieren. Geld kann doch am Ende des Tages nicht mächtiger sein als Moral und Menschlichkeit. Was wäre denn das für eine Welt. Und immerhin: scheinbar zeigen sich ja schon erste Erfolge. Werden doch Nahrungsmittel wie Weizen, Gerste und Mais in großem Stil vernichtet. Um damit Biogasanlagen zu betreiben. Und was dann bei der Stromerzeugung  so übrig bleibt, das mag man dann gern wieder auf die Felder kippen und an die Tiere verfüttern. Wir werden es schon essen. Wetten?


Wird unser Held nun am Ende der Radieschensaison vom Skorbut dahingerafft werden? Oder sollte er schon vorher den Folgen seines Protesthungerstreiks erliegen? Wir werden es nie erfahren. Denn wir sehen uns gerade mit ganz anderen Resten der Stromerzeugung konfrontiert, die uns den Weg in eine strahlende Zukunft weisen ...

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Mittwoch, 25. Mai 2011

Objektiv tückisch

Es gibt Tage, an denen fühle ich mich wie der Malermeister am Empfangstresen einer Behörde, den Farbeimer in der Hand und den Hinweis auf den Lippen, man habe ihm ein Schreiben zugesandt und ihn darin klar aufgefordert, Unzutreffendes bitte zu streichen. Wo er denn jetzt damit anfangen könne. Ein geistesgegenwärtiger Empfangschef hätte sich vielleicht schnell der leitenden Etage und meines Lieblingsbefehls in der Programmiersprache "Assembler" erinnert – „Replace leading zeros by blanks“. Und mit einem Blick auf den Eimer weißer Farbe noch ein wenig über die darin versteckte Doppeldeutigkeit sinniert. Aber ich bin kein Programmierer. Auch kein Behördenangestellter. Und das ich selbst handwerklich vollkommen unbegabt bin, bekomme ich gerade durch den kindersicheren Objektivaufsatz meiner neuen Fotokamera deutlich vor Augen geführt.

Anders als dem armen Malermeister, der sicher so umgehend wie –fassend über sein Missverständnis aufgeklärt worden sein mag, wird mir umgekehrt immer klarer, dass die Bezeichnung „Schnappverschluss“ im Herstellerprospekt meiner Kamera viel wörtlicher zu verstehen ist, als ich ursprünglich vermutet hatte. Drei Finger sind schon bandagiert und die Kamera arbeitet weiter gewissenhaft an radikaler Verkürzung der bisher übriggebliebenen. Wahrscheinlich steckt die perfide Strategie des Produktdesigns dahinter, Kunden durch Amputation der Fingerkuppen daran zu hindern, zu viele Beschwerdemails tippen zu können. Oder es handelt sich um einen geschickt getarnten Merchandising-Deal mit der Innung der Unfallchirurgen. Möglicherweise erhalten sie Gratiskameras. Und die dann vielleicht sogar mit Bedienungsanleitungen, die kühn über die Grenzen des Asiatischen Sprachraums hinausschreiten und so wenigstens Schriftzeichen verwenden, die sich zum Zweck einer Übersetzung durch den Internetdienst „Babelfisch“ mit einer herkömmlichen, Europäischen Tastatur eingeben lassen. Auch, wenn dadurch dann vieles einfacher würde.

Dabei macht die Hinterlist internationaler Produktdesigner ja durchaus nicht beim Produkt selber halt. Als bekennender Verpackungslegastheniker verfüge ich über ärztlich bestätigte Verlaufsprotokolle darüber, wie es gelingen kann, sich unter Verwendung einer handelsüblichen Plastikschale voller Scheibenkäse beide Handgelenke zu brechen. Unvorstellbar, dass in einer Welt, in der man durch Aufdrucke auf Pappbechern davor gewarnt wird, der soeben erworbene Inhalt dieses Bechers könnte unter Umständen noch etwas heißer sein als die umgebende Umwelt, solch heimtückische Plastikverschweißungen oder verzwickten Kartonage-Konstruktionen auf den wehrlosen Verbraucher losgelassen werden können.

Menschen, die von Firmen für die Gestaltung dieser Körperverletzungsversuche eingestellt werden, weisen ihre Qualifikation gewiss durch profunde Erfahrungen in Entwurf und Umsetzung von Großwildfallen und diskreten Tötungsmaschinen nach. Ein kleiner Schritt von der Rüstungsindustrie zum Industriedesign. Und ein bekömmlicher, wenn bei Nachbarschaftsparties einmal die unweigerliche Frage „... und was machst Du so beruflich?“ gestellt werden sollte. Wobei das Ansehen von Industrie- und Produktdesignern zunehmend unter Druck gerät. Mein Tipp: Einfach behaupten, man sei Produkt-Tester. Und versuchen, dabei nicht rot zu werden. Sollte die Dame, mit der man gerade spricht, sichtbar Pflaster oder Verbände an den Händen tragen, kann ein solcher Einstieg einen wirklich schmalen Fuß machen. Und gleich sowohl ein Gesprächsthema wie auch gewissermaßen sie selbst an die Hand geben: „Zeigen sie  doch mal ... meine Güte ... diese Verbrecher ... sie Arme, sie ...“

Dummerweise stellen sich die meisten Damen dieses Planeten in technischen und Verpackungs-Angelegenheiten weitaus geschickter an als ich. Was kein Wunder ist; werden sie doch schon von Kindesbeinen an darauf trainiert, kleine Pastikfiguretten in immer neue, bunte Kleider zu hüllen oder spielerisch in mikroskopischen Emiliy-Erdbeer-Pocket-Welten zu versinken. Jungs werden da anders sozialisiert. Im Wesentlichen geht es hier doch in den ersten Jahren darum, Dinge möglichst schnell und effektiv kaputt zu machen. Am besten mit Waffengewalt. Fürchterliche Rache nimmt diese Zerstörungserziehung bei den ersten, zaghaften Versuchen, das Kind durch entzückende Dampfmaschinen oder Chemiebaukästen an die Erkenntnis heranzuführen, dass sich Dinge auch einfach nur betreiben oder konstruieren lassen.

Eingeholt wird man als Mann von dieser weiten Kluft zwischen den Geschlechtern spätestens bei der Konfrontationen mit Finessen reizender Damenunterwäsche. Es gäbe schreckliche Erlebnisse zu berichten, bei denen vor allem die weiter oben getragene Unterbekleidung der Damenwelt eine tragende Rolle spielt. Und die sich darum drehen, eben diesem Tragen entgegenzuwirken. Es braucht schon eine Menge Humor und eine noch größere Menge an Marvin Gaye oder Barry White-Alben, um hier wieder Boden wett zu machen. Oder gleich dort liegen zu bleiben, weil man sich beim Versuch, dieses vermaledeite Kleidungsstück zärtlich zwischen den Schulterblättern zu öffnen, irgendwie den Knöchel am linken Fuß verstaucht hat.

Amerikaner müsste man sein. Dann bliebe einem wenigstens noch der Klageweg als Racheoption gegen die willkürliche Gefährdung der körperlichen und geistigen Gesundheit durch ruchloses Produkt- oder Verpackungsdesign offen. Gerne erinnere ich in diesem Zusammenhang an das legendäre Urteil von 2004 aus Oklahoma City – hier erhielt ein Mann angeblich insgesamt $ 1,75 Mio Schadenersatz und Schmerzensgeld, weil er mit seinem neu erworbenen Wohnmobil verunglückt war. Der vom Hersteller vorgebrachte Einwand, der Fahrer hätte eben trotz eingestelltem Tempomaten auf der Autobahn nicht den Fahrersitz verlassen und sich hinten im Wohnmobil einen Kaffee kochen dürfen, wurde mit Verweis darauf abgeschmettert, ein entsprechender Hinweis ließe sich im Betriebshandbuch des Wagens nicht finden. Fast schade, dass es sich bei dieser legendären Geschichte eben tatsächlich um eine waschechte Urban Legend handelt; doch schön erfunden ist sie alle Mal. Wer wahre Geschichten den schönen vorzieht, dem sei die offizielle Website des jährlich verliehenen Stella-Liebeck-Awards empfohlen (http://www.stellaawards.com/). Und wer dann denken mag: „Hach, glückliches Amerika!“ – der sei daran erinnert, dass im Bundesstaat Arkansas öffentliches Turteln mit bis zu dreißig Tagen Gefängnis bestraft werden kann und in der Stadt San Antonio im Bundesstaat Texas der Gebrauch von Augen und Händen beim Flirten illegal ist. Na, wenn letzteres mal keinen kreativen Ansporn darstellt ...

Eingedenk meiner jüngsten Erfahrungen mit tückischen Objekten und – insbesondere - dem Wechselobjektiv meiner neuen Kamera, wird auch mir in unmittelbarer Zukunft wohl der Gebrauch von Augen und Händen beim Flirten verwehrt bleiben. Dabei. Bräuchte ich doch dringend mal jemanden an meiner Seite, die mir beim Öffnen von Konservendosen und Käseverpackungen zur Hand geht. Ich koche dann auch, versprochen. Mein neuer Gasherd ist idiotensicher. Das steht zumindest so im Prospekt des Herstellers.


Wird unser Held nun nach San Antonio/Texas auswandern, um kreative Flirttechniken zu erlernen? Oder wird er bereits auf dem Weg dorthin vom Check-In-Automaten am Flughafen gemeuchelt? Wir werden es nie erfahren. Denn wir müssen jetzt ganz schnell von hier fort, bevor er noch auf die Idee kommt, seinen neuen Gasherd auszuprobieren ...


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Samstag, 14. Mai 2011

Frühlingshaft. Ohne Bewährung.

Waren es anfangs nur sich mehrende Indizien, wie pausenloses Geläut zahlreicher Schneeglöckchen oder das sinnlose Geballer einer jedenorts ins Kraut schießenden Natur, so ist mittlerweile der Hebel umgelegt, welcher die Welt aus ihrer depressiven Episode in jene manische Phase hineinkatapultiert, die alles auf den Kopf stellt. Vor allem auf meinen. Glaube ich.

Überhaupt, die Hormone. Beständige Sonneneinstrahlung und verschärfte Vitaminzufuhr auf allen denkbaren und undenkbaren Kanälen bringen da einiges durcheinander, was doch zuvor so schön geordnet schien. Der sanft umhüllende Mantel aus Stille und früher Dunkelheit wurde hinfortgerissen und auf den Bäumen tummeln sich Eichhörnchen auf LSD. Schon zu unchristlicher Morgenstunde rauben die Revierabgrenzungslaute von Heerscharen aus dem Exil zurückgekehrter Federwesen mir den gerechten Schlaf. Gab es nicht eine Diskussion um einzurichtende Auffanglager für Nordstrebende in den weiten Wüsten Afrikas? Doch man diskutiert nicht mehr. Man schreibt Gedichte. Eine Welle, die selbst mich dereinst erfasste. Aus zuvorkommender Rücksichtnahme auf den gerade noch geneigten, mittlerweile längst schon aufrechtstehenden Leser, seien hier nur die letzten Zeilen daraus zitiert:

... wie war doch der Winter schön grau und schön trist
Jetzt düngen die Bauern. Jetzt stinkt es nach Mist.

Jede zuvor in unbescholtenem Winterschlaf träge dahindämmernde Wiese wird plötzlich von wild geworden vermehrungswilligen Büschen und Bäumen in einen Zustand versetzt, der mich permanent an Anti-Schuppen-Schampoos denken lässt. Und bringt – genauso plötzlich - alte Bekannte zurück, die man doch eigentlich in den letzten Herbsttagen frohen Mutes bis in den nächsten Oktober verabschiedet hatte. Um den Spuren bäumlich erblühter Sexualität zu Leibe zu rücken. Das Gerücht, dass auf den Kopf von Gustaf Doragrip ein Preisgeld ausgesetzt sei und er seither unter falschem Namen lebt, ja, sogar von Schweden nach Norwegen emigriert sei, halte ich für übertrieben. Und verwerflich. Sollte mir jemand jedoch eine Kontonummer nennen können, auf der ich mein Scherflein zur ausgelobten Summe beitragen kann, bin ich gern dazu bereit. Und wer keine Ahnung hat, wovon ich gerade rede, der möge doch einfach googlen, welche Erfindung er unter der US Patentnummer 6324721 zur Anmeldung gebracht hat.

Doch nein, der Frühling hat nicht nur seine nervigen Seiten. Ich bin gerne bereit, das zuzugeben. Als Erster sogar, wenn es sein muss. Macht es doch zum Beispiel in gerade diesen Tagen besonderen Spaß, all die Veränderungen wahrzunehmen, die mit den Menschen um mich so vor sich gehen. Geeigneter Ort dafür ist  zum Beispiel der Ausgang einer innerstädtischen S-Bahn-Station. An der ich jetzt schon seit etwa anderthalb Stunden stehe und darauf warte, dass sich meine weibliche Verabredung einstellt. Manche Dinge bleiben eben bei aller Veränderung umher auch konstant.

Insbesondere erquicklich ist die Wechselwirkung zwischen Sommermode und Selbstbewusstsein zu beobachten, die vor- und nachwiegend das weibliche Geschlecht betrifft. Damit meine ich nicht den abrupten Umstieg von flachgummierten Winterstiefeln auf luftige, absätzige Sommersandälchen, die so manch eine Dame vor gravierende Herausforderungen im Konflikt mit Naturgesetzen stellt und teilweise zu bösen Abzügen in der B-Note (Haltung und Ausdruck) führt. Das gibt sich schnell, mit der Zeit. Interessanter ist zu sehen, wie der vor heimischem Spiegel noch aufwallende Mut angesichts einer breiteren Öffentlichkeit in sich zusammenfällt. Und die Betreffende dann sehnlichst wünschen lässt, es sei nicht allein die Öffentlichkeit, die sich ein wenig breiter gestalten würde, sondern auch das ausgewählte, um die Hüften geschwungene Kleidungsstück. Oder, wenn nicht das, dann wenigstens eben jene ein wenig weniger breit. Mit jedem Schritt wird nun so unauffällig wie möglich ein bisschen gezupft, um die paar vermeintlich entscheidenden Millimeter zusätzlicher Länge zu gewinnen. Ich – als zumindest mittelbarer Angehöriger der adressierten Zielgruppe – kann versichern: beiderlei Sorge ist unbegründet. Und manches Mal wünsche ich mir sogar heimlich einen Laubpuster herbei. Was wiederum kein anderes als ein untrügliches Indiz ist: ja, auch mich hat der Frühling gepackt. Hält mich fest in seinen Klauen. Warum auch warte ich hier sonst schon seit mittlerweile annähernd zwei Stunden. Auch, wenn ich dabei deutlich weniger Blütenblätter verliere als die umstehende Vegetation. Hoffe ich, zumindest.

Der Legende nach verdanken wir eine der entscheidenden Erfindungen der modernen Zeit einem Geschlechtsgenossen, der, in gleicher Situation wie ich, vermittels eines kleinen Stückchens Draht gegen seine Langeweile ankämpfte. Nach etwa drei Stunden soll er auf diese Weise die erste Büroklammer der Welt in seinen wunden Fingern gehalten haben. Ob die Dame dann noch zum Rendezvous erschienen ist, wurde nicht überliefert. Wohl aber, dass der Ungarischer Dichter Ödön von Horváth am ersten Juni 1938, trotz Gewitters seiner charmanten Verabredung harrend, auf der Champs-Élysées in Paris von einem herabstürzenden Ast erschlagen wurde. Der Frühling fordert seine Opfer. Und ich kann mich kaum erwehren, schon allein aufgrund der nun schon seit fast zweieinhalb Stunden an den Tag gelegten Passivität ähnliche Gefühle zu entwickeln. Nur das Dichten sollte ich vielleicht dabei lassen. Siehe Oben. Doch auch ein Blick in den malerischen Abendhimmel gibt mir kein Stückchen Draht in die Hand.

Vielleicht werden auch deshalb so viele Gedichte geschrieben, weil es ansonsten immer weniger gelingt, sich einen Reim auf manche Dinge zu machen. Was zum Beispiel würde man nicht alles einem Handwerker an den Kopf werfen, der erst drei Stunden nach dem verabredeten Termin erscheint? Welche Chance einem Bewerber geben, der mit gleicher Verspätung zum Vorstellungsgespräch antritt? Statt dessen grübelt man hin und her, welche Begrüßungsform denn nun gleich die angemessene sein würde. Ein Lächeln, mit kurz eingeworfenem, vertraulichen Zwinkern; dazu ein sanft gehauchtes „Hallo, schön das Du da bist“? Oder eher ein verwegenes, draufgängerisches „Hey, wollen wir erst einmal etwas trinken?“ Vor dem Essen, natürlich. Was dachten Sie denn, lieber Leser. Förmlicher Handschlag scheidet völlig aus. Geht denn eine angedeutete, leichte Umarmung zur Begrüßung vielleicht schon ein wenig zu weit? Und harmoniert sie nach etwas mehr als drei Stunden in der Abendsonne immer noch mit der durchschnittlichen Halbwertszeit des Eau de Cologne?

Trüge man sämtliche Überlegungen dieser Art aller Männer weltweit zusammen, die auf ihre verspätete Verabredung warten, entstünde eine wahrhaft umfassende Etymologie menschlicher Begrüßungsrituale. Die einem überhaupt nichts nützen würde, da immer noch der entscheidende Hinweis fehlte, wo denn nun genau nachzuschlagen sei. Auf jeden Fall kann festgestellt werden, das die Zeitspanne, die auf solche Überlegungen verwendet wird, in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur Lockerheit steht, die sich dabei in einem durchschnittlichen, männlichen Wesen ausbreitet. Nur gut, dass ich alles andere als durchschnittlich bin. Mittlerweile gehen die ersten Pärchen schon wieder zurück in Richtung S-Bahn, um irgendwo mit sich alleine zu sein. Mehr will ich mir an dieser Stelle gar nicht vorstellen. Es hat durchaus auch seine Vorteile, allein zu leben. Vielleicht fallen mir ja später wieder welche ein. Schließlich kommen ja auch noch die Eisheiligen.

Wie soll es auch möglich sein, sich der ringsum so überbürdend zur Schau getragenen Paarungswut zu entziehen? Zwiebelblumen, Obstbäume, Insektenschwärme, heiser gesungene Kohlmeisen und kurz berockte Mädchen nehmen einen allenthalben in die Zange. Wer sich über die zunehmende Sexualisierung unserer Medienwelt beklagt, möge doch einmal vier Stunden an einem Frühlingsabend zwischen Parkeingang und S-Bahn-Station verbringen. Dann reden wir weiter. Jetzt nicht. Denn – ich glaube, da kommt sie ... und - oh Himmel - sie sieht wundervoll aus ... ich liebe den Frühling ...

Handelt es sich bei der wunderbaren Frau tatsächlich um das Rendezvous unseres Helden? Oder hat er sich einfach nur an die falsche S-Bahn-Station gestellt? Wir werden es nie erfahren. Denn gerade wurde bei Facebook der aktuelle Aufenthaltsort von Gustaf Doragrip geposted. Also schnell noch in den Baumarkt ein entsprechendes Gerät besorgen, und dann auf nach Norden ... den Garten um sein Häuschen ein wenig auf Vordermann bringen ... um sieben Uhr morgens ...

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Sonntag, 10. April 2011

Businessmen eating Banana

Süddeutschland – Aus bisher noch unbekannten Gründen öffnete heute Morgen Herr V. aus H. kurz nach dem Landeanflug auf einen Süddeutschen Kleinflughafen unvermittelt die Tür des Notausganges. Der Vorfall ereignete sich, während die zweistrahlige Düsenmaschine einer populären Fluggesellschaft noch im Ausrollen begriffen war. Augenzeugen wollen gesehen haben, wie der offenbar für sein Alter erstaunlich agile Passagier sich anschließend hüpfend über den Rasen des Flugfeldes auf ein nahegelegenes Waldstück zubewegte, in dem er schließlich verschwand. Die von Flugpersonal und Ordnungskräften umgehend eingeleitete Suchaktion blieb bisher ergebnislos. Ein Polizeisprecher gab sich gelassen: „Die ernähren sich dann in der Regel eine zeitlang von Pilzen, Buschwerk und selbstgefangenen Eichhörnchen. Aber spätestens nach den ersten kalten Nächten im Herbst kommen sie alle wieder zurück.“

Etwas verwundert lausche ich meinen Gedanken und bleibe immer wieder an dem Punkt hängen, wie denn eine „umgehende Suche“ ihren Zweck erfüllen soll. Ist es dabei doch eher förderlich, sich direkt auf eine Sache zuzubewegen statt um sie herum zu laufen. Außer, sie wäre an einen Marterpfahl gebunden. In welchem Falle sie aber dann eigentlich nicht mehr gesucht werden müsste. Auch ist es meist kein Gehen, sondern eher eine Art Hüpfen, welches die umtriebigen Pfahlumtänzer so treiben. Woher kam doch gleich der Gedanken an den Marterpfahl?

Ach ja. Ich schaue durch die nieselnassen Scheiben des Busses, welcher mich die 75 Meter vom Kleinflugzeug zum Terminal befördern muss, und beobachte die Fachkräfte, die sich hingebungsvoll den Gepäckstücken widmen. Unaufhörlich quillen Letztere aus dem Leib der Maschine, um am unteren Ende von danach lechzenden Händen Ersterer empfangen zu werden. Wenn ich einmal richtig reich sein oder werden sollte, spendiere ich allen Kofferentladern auf den Flughäfen dieser Welt ein kostenfreies Anti-Aggressionstraining. Immerhin haben sie mir vor Augen geführt, das man Dinge nicht nur hoch, sondern – selbst bei Minimalabständen von unter fünfzig Zentimetern – auch mit aller Kraft nach unten werfen kann. Hochwerfen kommt erst dann, wenn sich eine solide Grundschicht aus geplatzten Plastik- und Metallteilen sowie sauberer und nicht mehr ganz so sauberer Unterwäsche im Anhänger des kleinen Kofferzuges gebildet hat. Nicht ohne Bewunderung erkenne ich die Meisterschaft mancher Werfer an, die sich ihren trüben Arbeitsalltag aufhellen, indem sie wahre Kunststückchen aus Saltos, Pirouetten oder mir zuvor völlig unbekannten Flug- und Drehfiguren – und das unter Zuhilfenahme von Gepäckstücken jeder Form und Güte – vor ein eigentlich nicht vorhandenes Publikum zaubern. Also ... ich kann das mit meinen Kunden oder Kollegen meistens nicht machen. So sehr mir oft genug danach wäre.

Eigentlich beneide ich diese Kofferumlader. Auch oder vielleicht auch gerade weil ich just mein Gepäckstück in schwindelerregenden Rotationsbewegungen aus etwa drei Metern Höhe auf einen dieser scharfkantigen Metallkoffer aufprallen sehe. Und somit selbst ein ganz heißer Kandidat für dieses Anti-Aggressionstraining bin. Dieser Gedanke lässt mich dann auch den ganzen Tag nicht los. Weder der an das Anti-Aggressionstraining noch der daran, dass es diesen Menschen am Flugzeug vielleicht viel, viel besser geht. Als den meisten im Flugzeug. Vielleicht? Wahrscheinlich. Sie können berühren, was sie tun. Ihre Gefühle direkt auf etwas Materielles übertragen. Und. Sie haben einen klar definierten Arbeitsbeginn. Und einen noch viel klarer definierten Feierabend.

Zu gewohnt nächtlicher Stunde rolle ich schließlich nach einem ebenso gewohnt abstrakten Arbeitstag mit meinem treuesten Gefährten, meinem – ach – so geschundenen Koffer durch eine fremde, verlassene Stadt vom Büro in Richtung Hotel. Als Verkörperung meines Sinnlosigkeitsgefühls verweht eine alte Zeitung Seite für Seite über die Straße, geschickt zwischen den ab und an aus der nahen Wüste herangewehten Ginsterbüschen kreuzend. Ich sehne mich nach einem Pferd und möchte Kühe über die Wiesen treiben. Oder Tischler sein. Ein grobes Stück Holz in meinen dann sicher auch groben Pranken spüren und es mit schwerem Werkzeug bearbeiten. Oder Bauer könnte ich werden. Meinen Blick über die bestellten Felder streifen lassen und dabei verträumt die Sense schärfen. Es ist Erntezeit. Gärtner auch, vielleicht. Meine bloßen Hände tief im warmen, tiefen, duftenden Erdreich vergraben. Oder – wenn das schon nicht geht - wenigstens im Dekolleté der Empfangsdame an der Hotelrezeption. Vor der ich gerade angekommen bin, um wortkarg und den Kopf voller warmer, tiefer und duftender Sinneseindrücke, endlich einzuchecken.

Solche Gedanken und Empfindungen sind weder für die Kunden- noch für irgendeine andere denkbare Form von Beziehung gut. Wahrscheinlich aus diesem Grund achten die Fluggesellschaften bei der Einsatzplanung des Servicepersonals peinlich genau auf häufige Wechsel, so dass eine Vertiefung sozialer Bindungen zwischen Fluggast und seiner luftigen Begleitung praktisch unmöglich wird. Und er sich auf andere Konstanten zurückzieht. Gern würde ich an dieser Stelle auf manches Klischee verzichten, doch es ist notwendig zu erwähnen, dass es das „Zen des Tomatensaftverzehres“ gibt. Anfängern und Wenigfliegern erschließt sich diese verborgene Welt des routiniert Reisenden nicht. Es ist etwas ganz Verborgenes, Stilles, Heiliges.

Das Ritual beginnt mit ruhiger Betrachtung der vor einem stehenden, amorphen Masse im dünnwandigen Plastikbecher. Ohne den Blick abzuwenden geht der Griff zu Pfeffer- und Salztütchen, um mit einem einzigen, kühnen Schwung aus dem Handgelenkt alle verirrten Krümel aus dem angestrebten Öffnungsbereich zu entfernen und geballt am unteren Boden der Tütchen zu versammeln. Neigen Vielflieger noch dazu, Pfeffer- und Salztütchen getrennt zu öffnen, geschieht das bei Fluggästen mit Senatorstatus in einer einzigen, träumerisch fließenden Bewegung. Dem zweimaligen Falten der leeren Papiertütchen nach Einstreuen ihres Inhaltes in den Tomatensaft kommt besondere Bedeutung zu. Glaube ich zumindest. Auch, wenn sie sich mir noch nicht ganz erschlossen hat. Aber ich arbeite daran. Geübter bin ich schon darin, das kleine Holz- oder Plastikstäbchen zwischen die Spitzen von Daumen und Zeigefinger zu nehmen und unter langsamen Rührbewegungen – ganz wichtig: nur im Uhrzeigersinn, bitte – in das so geweihte Getränk einzuführen. Die Rührbewegung ist nicht zu unterbrechen, bis sich Salz- und Pfefferkrümel gänzlich von der Oberfläche zurück- und in die urmutterhafte, tomatensaftgewesene Allegorie des Lebens, des Universums und des Seins der Dinge an sich eingezogen haben. Ist dies erst geschehen, ist der Zeitpunkt der Vereinigung mit diesem Universum gekommen. Grundsätzlich sei dabei empfohlen, nur schluckweise vorzugehen. Zu stark kann sonst die Energie, die dem Getränk nach solchem Ritual innewohnt, auf Körper und Geist des Ungeübten einwirken. Es sei denn, die spirituell inspirierte Vereinigung findet durch eines der zahlreichen Luftlöcher auf höher gelegenen Verkehrswegen eine spontane Beschleunigung. Dann wirkt meist jede reibende Bewegung mit Papier- oder Textilutensilien den Fleck in der Bauchgegend nur noch tiefer ins Gewebe ein. Ich helfe mir dann meist damit, mir Geschichten über spektakuläre Terroristenangriffe, haarsträubende Schießereien oder mitreißende Verfolgungsjagden mit anschließendem Verkehrsunfall auszudenken und jedem zu erzählen, der die Frechheit besitzt, mich nach der Herkunft dieses Flecks zu fragen. Meist aber schreckt mein grimmiger Gesichtsausdruck nach solcherlei Erlebnissen jeden potentiell Fragenden von vornherein ab.

Dabei ist Tomatensaft nicht die einzige Bedrohung, der sich ein vielfliegender Berater ausgesetzt weiß. Beinahe ebenso tückisch ist der durch Bewegungsmangel und das chronisch auf Gummibärchen, Sandwiches oder Kantinenessen reduzierte Nahrungsangebot bedingte Magnesiummangel. Schneller noch als der im nächsten Schritt drohende Skorbut drückt sich der Mangel an Magnesium nicht etwa dadurch aus, dass man nicht mehr – einmal angezündet – in buntesten Flämmchen (und das auch noch unter Wasser) verknistert, sondern lediglich langweilig verkohlt (der Dehydrierung des gemeinen Beraterwesens wäre ein eigenes Kapitel zu widmen). Nein, Magnesiummangel macht sich eher dadurch bemerkbar, dass man nachts aus einem Albtraum zu erwachen glaubt, nur um festzustellen, dass es gar kein Albtraum war, sondern der ganze Körper sich tatsächlich in widerlichen Krämpfen schüttelt. Es gibt noch andere Nebenwirkungen, doch die wollen hier gnädig verschwiegen sein.

Wohl aus diesem Grunde sind Bananen, dem Irrglauben nach immer noch einer der ergiebigsten Magnesiumlieferanten, fester Bestandteil einer jeden Flughafenlounge. Und bilden somit, neben den dort ebenfalls erhältlichen Gummibärchen, Salznüsschen und gelegentlichen Sandwiches quasi das lebenserhaltende Grundrauschen an Nahrungszufuhr. Nur eines haben die Erfinder der modernen Beratungsgesellschaft dabei nicht bedacht: welche Figur ein durchschnittlicher Berater beim Verzehr einer Banane abgibt. Ich selbst hege eine tiefe Abneigung gegen Bananen. Wer mag, kann mich gern nach den Gründen dafür befragen. Und wer nicht mag, dem sei versichert: sie sind stichhaltig. Auf jeden Fall muss ich daher in diesem besonderen Fall den Bereich eigener Erfahrung verlassen. Nicht jedoch den eigener Anschauung. Und gern gebe ich zu, dass ich dieser Anschauung immer wieder und mit großer innerer Freude fröhne.

Denn die Szenerie ist eigentlich immer die Gleiche. Mit weichem Tritt begibt sich ein graugekleidetes, je nach Tageszeit frisch gebügelt oder zerknittertes Beraterwesen an die Auslage der Flughafenlounge (Kontinent, Land oder Sprachraum sind dabei vollkommen unerheblich; es handelt sich hier um ein wahrhaft globales Phänomen), um sich mit Salznüsschen und Weingummi einzudecken. Versonnen gleitet der Blick über ansonsten spärliche Auslage und erfasst schließlich einen Korb oder eine Schüssel, in der Bananen zum Verzehr angeboten werden. Weibliche Berater sind an dieser Stelle gegenüber ihren männlichen Kollegen übrigens deutlich im Vorteil, denn sie können die fettige Südfrucht in ihren Handtaschen deponieren und zu irgendeinem, gebotenen Zeitpunkt in Ruhe und – vor allem – unbeobachtet verzehren. Die männlichen Kollegen, die es unter Zuhilfenahme von Diplomaten- oder Pilotenkoffern oder gar ihrer Laptoptasche versucht haben, es den Damen nachzutun, sind meist recht eindrücklich und nachhaltig eines Besseren belehrt worden. So etwas empfiehlt sich eher weniger. Es bleibt also nur der unmittelbare Direktverzehr. An Ort. Und Stelle.

Üblicherweise lässt sich schnell feststellen, dass die abgeschiedeneren und weniger einsichtigen Ecken in den Lounges längst besetzt sind. Es bleiben – will unser Berater denn im Sitzen speisen – nur die kleinen Tische in der Mitte des Raumes. Sozusagen in der Mitte des Geschehens. Einen solchen Platz ergattert, folgt der Berater unweigerlich seinen natürlichen Reflexen, räumt Zeitungs- und Speisereste beiseite und klappt sein Laptop auf. Die immer weiter um sich greifenden Devices wie Tablet-PCs oder Netbooks bieten hier natürlich Vorteile, was die freizuräumende Fläche betrifft. Das Prinzip bleibt jedoch gleich. Nachdem die E-Mails abgefragt und das Telefon griffbereit neben dem mobilen Schreibtisch platziert wurde, kehrt die Erinnerung an die nächtlichen Wadenkrämpfe zurück. Und an die mitgebrachte Banane.

Wie weit sich der heutige Berater von seinen Vorfahren aus Cro-Magnon-Zeiten entfernt hat, dokumentiert er gern durch den Gebrauch von Technik, Kleidungsgewohnheiten und affektiertem Gehabe. Alle drei stehen dem gelassenen Verzehr einer Banane diametral gegenüber. Sorgsam und mit sehr, sehr spitzen Fingern wird die Frucht mit chirurgischer Vorsicht von der sie umgebenden Schale befreit. Kritisch der Zustand beäugt, der beim Fruchtfleisch irgendwo zwischen quietschig grün und schleimig braun angesiedelt werden kann. Und schließlich herzhaft ein erster Biss gewagt. Nicht zu klein, denn schließlich möchte man den Umstand der Zuführung in den eigenen Organismus so schnell wie möglich hinter sich bringen. Meist umfasst der erste Bissen also etwa sechzig Prozent der Bananengesamtmasse. Unvorstellbar, was eine solche Frucht mit der Mimik eines Beraters anzustellen vermag. Wehe dem, der nun zum Lachen reizen sollte. Doch diese Gelegenheit ergibt sich nur äußerst selten. Denn meistens klingelt in genau diesem Moment das neben dem mobilen PC platzierte Telefon.

Es ist erschütternd zu beobachten, wie manche Menschen Opfer ihrer Reflexe werden. Und der Verstand erst in dem Augenblick zu arbeiten beginnt, in welchem der Anruf schon angenommen und das Telefon ans Ohr gebracht ist. Spätestens bei dem Versuch, sich an selbigem mit Namen zu melden, wird diese Tatsache dem bananengestopften Berater in vollem Umfang bewusst. Doch dann ist es zu spät. Erste Spritzer fruchtiger Flüssigkeiten benetzen Bildschirm und Tastatur. Bei den Anhängern von neumodischer Tablet-PCs praktischerweise gleich Beiderlei. Im Sinne des Wortes: in einem Atemzug. Die ganze Tragik dieses Umstandes wird dem Sprecher in dem Moment offenbar, in dem er die von seinem Gesprächspartner erfragten Informationen aus dem PC abrufen muss. Neuesten, wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge übersteigt der Gehalt an potentiell gesundheitsschädlichen Keimen einer durchschnittlichen PC-Tastatur den von WC-Brillen öffentlicher Toiletten um ein Vielfaches. Für Tablet-PCs liegen meines Wissens noch keine gesicherten Erkenntnisse vor. Als unbestreitbar darf jedoch die Tatsache gelten, dass handeslübliche Bananen für einen Löwenanteil des organischen Nährbodens verantwortlich sein dürften, auf welchem diese Keime zu gedeihen pflegen.

Schon während des Telefonates ist der Berater mittlerweile an die Weingummiausgabe zurückgekehrt und hat sich Servietten zusammengesucht, um die gröbsten Schäden zu beheben. Meist bleibt diese Tätigkeit in dem Schritt stecken, wo es um die Reinigung des seltsamen, bunten Stoffstückchens geht, welches man sich aus irgendeinem, für niemanden so recht nachzuvollziehenden Grund um den Hals gebunden hat. Ungegessen und verschmäht, zuweilen noch mit kurzem, hasserfüllten Blick getadelt, dämmert derweil der Rest der schuldhaften Banane zwischen Zeitungen und zerknülltem Zellstoff seiner organischen Zersetzung entgegen. Oder dem nächsten Berater, der ahnunglos auf dem Tisch Platz für seinen mobilen PC schaffen möchte. Den Bananen hat unser Berater zumindest zunächst abgeschworen. Bis zum nächsten, nächtlichen Krampfanfall.
Abschließend sei an dieser Stelle nicht verschwiegen, dass auch ich mir immer wieder bunte Stoffstückchen um den Hals binde. Wahrscheinlich, um das Anthrazit des umgebenden Wollgemisches zumindest stellenweise etwas aufzuhellen. Aber das ist nicht der Grund, warum ich keine Bananen esse. Das ... ist ein anderer.


Wird unser Held sich ob seiner selbstgewählten Musa-Abstinenz nun weiter in nächtlichen Krämpfen winden? Oder sollte sich am Ende doch eine Hotelangestellte ausschnitthaft seiner Leiden durch wohltuende Massagen annehmen? Wir werden es nie erfahren. Denn gerade ist ein neuer Flieger aus Übersee gelandet. Und es gilt, ein wenig Gepäck auszuladen ...

(c) 2011 verkomlizissimus