Montag, 31. Oktober 2011

Die Mathematik der Mitte

Vielleicht stimmt ja auch irgendetwas mit mir nicht. Zumindest zeigen mir diese kleinen Filmchen, mit denen mich regelmäßig eine zottelige Joghurtfirma ins „Weekend-Feeling“ schicken will, wie fern meine Lebenswirklichkeit sich offenbar neben dem Normalmaß eines durchschnittlich glücklichen Menschen bewegt. So schicken mich in der Regel eher schnarrende Durchsagen ins Weekend-Feeling, um mir mitzuteilen, dass sich eben die Reise ins Wochenende durch Verspätung des aktuell gewählten Transportmittels noch ein wenig länger hinziehen wird als ohnehin schon in Kauf zu nehmen war.

Wie weit gehen hier Realität und Wirklichkeit wieder einmal auseinander. Auf einer zugigen Drahtbank warte ich meinem Schicksal entgegen und mache mir trübe Gedanken. Früher waren solche Bänke noch aus Holz. Gaben etwas von der Wärme und dem Sonnenlicht an den Körper zurück, der auf ihnen saß. Heute sind solche Bänke aus geflochtenem Metall. Und machen mehr als seltsam aussehende Muster auf den Po.

Im schummrigen Wartebereich gibt es nicht einmal ein vernünftiges Café. Nur einen systemgastronomischen Standbauchladen mit grimmigem Servicepersonal. Ich warte auf meinen Kaffee, der noch einen Moment durch die Maschine laufen muss, um wieder warm zu werden (alles scheint heute Verspätung zu haben) und nage etwas an vertrocknetem, alten Backwerk. Fliegen möchte ich können. Wie ein Superheld. Wie oft hatte ich als Kind davon geträumt. Heutzutage findet man aufgrund um sich greifender Handy-Manie noch nicht einmal eine vernünftige Telephonzelle, um sich dafür umzuziehen zu können. Überhaupt scheint mir früher gerade alles irgendwie besser gewesen zu sein.

Wie sorglos es sich doch damals in den Tag hinein leben ließ. Gut, es wäre noch eine ganze Spur sorgloser gewesen, hätte man der damals anstehenden Mathematikarbeit schon die Bedeutung beimessen können, die man ihr heute rückblickend gerade noch zugestehen mag. Wie falsch man damals die Dinge doch bewertet hat. Wie verschoben alle Prioritäten waren. Herrjeh. Wie dumm ich damals war. Wie wenig ich die Chancen zu nutzen verstand, die mir damals offen standen. Gut, dieser Punkt hat sich bis heute eigentlich nicht so rasend viel geändert. Nun ja. Es ist schließlich auch schön, wenn es bei allen Turbulenzen hier und da noch ein paar Konstanten im Leben aufzuspüren gibt. Und doch.

In unserer Jugend waren wir frei und wussten es nicht, jetzt sind wir nicht mehr frei und wissen es. Und warten gebannt auf den Tag, an dem wir wieder frei sein werden, nur um dann festzustellen, dass wir nicht mehr können. Kurz lässt sich diese Erkenntnis wohl in einem einzigen Wort zusammenfassen: Midlife Crisis. Okay, das sind zwei Wörter. Aber – ich bitte sie: wo hätte uns Mathematik jemals schon eine Antwort auf die großen Fragen unseres Lebens geben können? Eben. Sie haben damals im Unterricht wohl auch mehr Interesse an der Mitschülerin neben Ihnen als dem sanft gerundeten Rechenergebnis an der Tafel gehabt. Ich kann das verstehen. Das mit dem Mädchen. Das mit dem Ergebnis meist weniger.

Es ist dies nun die Zeit – so wird gemeinhin postuliert – da sich ein Mann meines Alters einen schnittigen, im Bestfall roten Sportwagen zulegt und sich auf die Suche nach unanständig jungen, weiblichen Begleiterinnen begibt. Oder auch nicht mehr ganz so jungen; Hauptsache unanständig. Eine kurze Überprüfung meines Kontostandes verrät mir, dass scheinbar auch an dieser Stelle irgendetwas in meinem Leben grundlegend schief gelaufen sein muss. Vielleicht hat das ja auch etwas mit meiner regen Teilnahme am Mathematikunterricht früher zu tun. Ein schaler Seitenblick auf die hinter mir in der Schlange am Kontoauszugsdrucker wartende, haarbenetzte Hausfrau im Trainingsanzug lässt mich wehmutvoll an die endlos langen Stunden unter der Überschrift linearer Algebra zurückdenken. Vielleicht wird es doch langsam Zeit, erwachsen zu werden.

An dieser Stelle sollte jetzt mein rebellischer Geist einsetzen und heftig aufbegehren. Doch der scheint gerade angesichts der frühen Herbstdunkelheit ein kleines Nickerchen zu halten oder liegt mit Hexenschuss im Bett. Statt dessen werde ich beim Verlassen der Bank um Haaresbreite von einem roten Sportwagen erlegt, der unter dem Gelächter zweier, unanständig junger Mädchen auf der Rückbank und mit stark überhöhtem Tempo hinter der nächsten Hausecke verschwindet. Ich wünsche ihn in die nächstgelegene Radarfalle und stelle fest, dass ich das Leben nicht immer für gerecht halte. Dabei steige ich auf mein klappriges, rostzerfressenes Hollandrad und rumple über das Kopfsteinpflaster davon. Es beginnt leise zu regnen.

Wenn sie an dieser Stelle Mitleid und das unbändige Verlangen spüren, diesen armen, vom Schicksal so hart gebeutelten Mann an Ihr Herz zu drücken, so ist das durchaus Absicht. In Ermangelung roter Sportwagen fahren viele Alters- und Geschlechtsgenossen auf der Mitleidsschiene gar nicht so schlecht. Auch wenn der unterschwellige Apell an mütterliche Fürsorgeinstinkte in der Regel knapp an der Kernzielgruppe vorbeischrammt und eher grundanständige Frauen anzuziehen vermag. Kenner wissen, dass ich zwar ein altes Fahrrad besitze, damit aber höchst selten über Kopfsteinpflaster fahre. Und schon gar nicht bei Regen.

Dennoch komme auch ich nicht umhin, mich mitunter in finsterer Nacht an schummrigen Orten wiederzufinden, während ich mich – das Universum anklagend – rufen höre: „Kann das denn wirklich schon alles gewesen sein?“ Wie üblich hat das Universum darauf eine prompte Antwort parat. Wie auch in diesem Fall, in dem mir die mürrische Dame aus ihrem Bauchladen heraus zuraunt: „Ich hab doch gesagt, der Kaffee muss erst durchlaufen. Und nehmen sie gefälligst ihr klappriges Rost-Dingens da vor meinem Werbeschild weg; das verschreckt mir ja die Gäste.“

Doch das Universum ist nicht so. Es ist ganz anders. Und stellt einem, ganz unvermutet (und ohne dass man darum gebeten hätte), aus heiterem Himmel ein bezauberndbetörendes Wesen direkt vor die Nase. So dass man nur noch den Wunsch hat, in dessen wunderschönen Augen die Sterne zu zählen. Und sich freut, damals in Mathe nicht so aufmerksam gewesen zu sein, so dass man sich jetzt andauernd dabei verzählt. Denn dann kann man gleich wieder von vorne damit anfangen. Wie gern ich heute lebe.


Wird unser Held auf diese Weise jemals die Zahl der sichtbaren Sterne unseres Universums ermitteln können? Oder kommen noch ein paar dazu, wenn ihn sein klappriges Fahrrad beim nächsten Zusammenbruch spontan mit einem Laternenpfahl liiert? Wir werden es nie erfahren. Denn wir müssen gerade unseren roten Sportwagen versetzen, um all die Strafmandate  wegen Geschwindigkeitsüberschreitung bezahlen zu können ...


(c) 2011 verkomplizissimus

4 Kommentare:

  1. Na, das hat ja gedauert, diesmal. Aber dann über Verspätungen von Flugzeug und Bahn beschweren. Das sind mir die Richtigen.

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  2. Die Weile, von der ich zwischenzeitlich ereilt wurde, war nicht lang; soviel sei entschuldigend hier vorgebracht. Ansonsten labe ich mich am Bewusstsein, wenigstens einmal der Richtige zu sein. Neige demutsvoll mein Haupt und stell mich schämend in die Ecke.

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  3. Du sollst nicht da in der Ecke herumstehen, sondern gefälligst tippen. Auf jeden Fall mich nicht wieder so lange auf was neues warten lassen, mönsch.

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  4. Amüsant, aber irgendwie verliere ich gleich zu Anfang den Faden ... wartet das "literarische
    Ich" auf die Bahn, oder den Flieger oder auf nichts - aber am Bahnhof?! Hmmm ... kryptisch ... aber warten wir nicht alle, irgendwie, irgenwo auf irgendwas^^ ... lG, schmunzelnderweise, Die Hellwache :-)

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