Dienstag, 23. November 2010

Die Sommer meiner Kindheit

Ich denke noch darüber nach, ob ich die Tage mag, an denen mich um kurz nach acht das erste Mal das Bedürfnis überkommt, mein Hemd zu wechseln und endlich duschen zu können. Was um diese Zeit recht unpraktisch ist, denn meistens komme ich dann gerade erst aus dem Bad.

Freundliche Kollegen verleiteten mich einst dazu, über eine Vielzahl von Schreibtischen hinweg an einem dieser Online-Tests teilzunehmen. Ich fand, ich schlug mich nicht schlecht, schließlich wusste ich, was ein Bonanza-Rad ist und ich kannte auch „Treets“. Unangefochten vom Rest des Auditoriums erreichte ich mühelos die Höchstpunktzahl. Mit stolzgeschwellter Brust schritt ich also durch den ehrfürchtigen Kreis aller Anwesenden, um einen Blick auf den Bildschirm und mein herausragendes Testergebnis zu werfen. Den Titel des Test hatte mir natürlich keiner verraten. Er lautete: „Sind sie alt?“

Es sind diese Tage, an denen das Verlangen nach Bonanza-Rädern, kurzen Hosen und ausgedehnten Freibadbesuchen in seiner Unstillbarkeit schmerzhaft wird. Nicht nach Treets, denn trotz der karamelisierenden Zuckerschicht reagierten die kleinen Schokokügelchen auf solcherlei Wetterlagen mit relativ spontanen Fusionsgelüsten und sorgten damit, wenn in der Hintertasche der kurzen Hose getragen, für erhöhten Erklärungsbedarf. Doch Treets gibt es nicht mehr. Und es ist lange her, dass ich ein Bonanza-Rad gesehen habe. Wer mich jetzt nach meinen kurzen Hosen fragt, möge sich setzen, in sich gehen – vor allem aber schweigen.

Wie sehr ich mich nach dem Gefühl gefrorenen Erdbeergeschmacks auf meiner Zunge sehne. Glücklicherweise sind nicht alle Dinge verschwunden, die meine Kindheit bereicherten. So gibt es sie immer noch – die bunt bemalten, jedem TÜV-Inspektor die Tränen in die Augen treibenden Eisverkaufswagen. Wo andernorts längst der moderne Lebensstil seinen zurückliegenden Siegeszug mit Sorten wie „Papaya-Rochefort“, „Krustentier-Himbeersorbet“ oder „Gargamels Rache“ (als Antwort auf die bei Kindern vor erreichen des schulpflichtigen Alters ehedem so beliebte Sorte „Schlumpf“) feiert, herrscht hier noch der reelle Pragmatismus eines heißen Sommertags. Ausgedrückt in Vanille, Schokolade, Erdbeer. Für Abenteurer gibt es noch Waldmeister und Zitrone im Angebot. Die Vielfalt wählbarer Streuselauflagen beschränkt sich auf „Schoko“ und „Bunt“; Sahne ist grad ausgegangen. Wohin, frage ich mich, verträumt die sommerdunstige Allee hinabschauend. Ich stehe in der Warteschlange und will ihr nach.

Nostalgische Gefühle durchfluten mich, als ich die eingetrockneten Ränder an den Weißplatikschüsseln in der Auslage betrachte. Vielleicht bin ich dem Eis meiner Kindheit viel näher, als ich mich stets wähnte. Manche Wölbung unter der frischen Kruste der letzten Wochen legt auf ihre Weise nahe, dass es mich vielleicht nie ganz verlassen hat, dass es ... irgendwie immer noch da ist. Ich tauche tief in meine Erinnerungen. Es war ein Keks, der Marcel Proust schließlich verleitete, sich auf seine zwölfbändige Suche zu begeben ... vielleicht sollte ich ein Buch schreiben? Oder zwölf? Oder malen. Ich betrachte die fraktalen, wundervollen Muster, die der ungezügelte Vermehrungsdrang der Salmonellen auf die Oberflächen der Eiskrusten zeichnet. Endlich bin ich an der Reihe. Ich kaufe eine Flasche Wasser und werfe sie in einem unbeobachteten Augenblick in den nächsten Papierkorb.

Hinter einer großen Hecke liegt das Paradies. Durchmischt vom fröhlichen Tumulten balgender Kinder ist immer wieder unverkennbar das Geräusch zu hören, das größere und kleinere Dinge machen, die man aus einiger Höhe ins Wasser fallen lässt. Mein alter Automatismus, der meine Augen auf die Suche nach dem Loch im Stacheldraht-Maschendrahtzaungeflecht suchen lässt (in jedem Freibadzaun gibt es irgendwo ein solches Loch), lässt sich nicht abstellen. Allerdings auch nicht der Lauf der Zeit, denn als ich es gefunden habe stelle ich fest, dass ich natürlich nicht hindurch passe. Der ältlichen Dame an der Kasse weicht sämtliche Farbe aus dem Gesicht, als ich vor ihr stehe. Offenbar hält sie mich für einen Inspektor des Gesundheitsamtes. In dem kleinen Anhänger, in welchem man unschuldige Kartoffelstückchen ungerechtfertig in altem, siedenden Öl vor sich hinfoltert (wofür sie sich ganz schrecklich an denen rächen, denen sie danach in zartgrauen Papierschälchen ausgeliefert werden), gehen hinter dem Tresen in Deckung. Ich höre das Klappen einer Tür und sehe eine dunkle Gestalt zwischen den Büschen verschwinden.

Die Wirkung, die ich auf manche Menschen zu haben scheine, verblüfft mich immer wieder. Spontan kehren Erinnerungen an meinen letzten Freibadaufenthalt zurück. Ein kleines Mädchen war in seiner Ausgelassenheit vom Beckenrand gesprungen, doch statt im erwarteten Wasser dann auf meinem Rücken gelandet. Nun ist jede unmittelbare Kontaktaufnahme mit mir ein prägendes Erlebnis, zumal für Menschen weiblichen Geschlechts. Diese spontane Überdosis war allerdings etwas, was die junge Dame ganz offensichtlich eher schlecht wegstecken konnte. Ich gebe zu, dass ich nicht lange genug überlegte (der Schmerz in meinem Rücken mag meine Gedanken abgelenkt haben) und mich entschloss, das arme Kind nicht ertrinken zu lassen. Vielmehr griff ich ihm unter die Arme und setzte es mit einem kühnen Schwung auf den Beckenrand. Es dankte mir diese Maßnahme mit einem ausgedehnten Heulanfall, der für nicht unbeträchtliches Aufsehen bei so ziemlich allen anderen Gästen sorgte, die an diesem Tag das Freibad bevölkerten. Und das waren einige.

Ich bin ja nicht so der Familienmensch. Doch ich gebe zu, dass es Momente in meinem Leben gab, in denen ich mich sehr nach einer Familie gesehnt habe. Dieser Moment war so einer. Wie leicht hätte sich die ganze Situation in Wohlgefallen auflösen können, wären in diesem Augenblick drei bis vier halbwüchsige Rotzbengel aus der Menge hervorgetreten und hätten gequäkt: „Pappa, Mamma sagt, dass sie sauer wird, wenn du nicht sofort aus dem Wasser kommst und uns Pommes kaufst.“ Vielleicht hätte ich diese Situation voraussehen müssen und drei bis vier halbwüchsige Rotzbengel mit der Aussicht auf Pommes entsprechend instruieren sollen. Der Umstand, dass ich als erwachsener Mann das Freibad allein aufgesucht hatte, ließ diesen gewissen Blick in die Gesichter der Umstehenden treten. Das Mädchen heulte erbarmungslos.

Vielleicht sind es Momente wie diese, auf die sich mein Mitleid mit den unschuldigen Kartoffelstückchen im siedenden Öl gründet. Ich kann verstehen, was sie fühlen, wenn ich an das denke, was damals in den Stunden danach geschah. Nervöse Großstadtmütter haben manchmal so etwas Überspanntes – zumal, wenn sie in größeren Gruppen auftreten. Mein Glück, dass moderne Badebekleidung für das Mitführen von Hieb- und Stichwaffen eher ungeeignet ist. Es war auch nicht wirklich hilfreich, dass mein eilends per Mobiltelephon herbeigerufener, einziger in der Nähe weilender Leumundszeuge Peter einen recht verschrobenen Humor hat. Von den nicht minder herbeigeeilten Ordnungskräften nach meinen pädophilen Neigungen befragt, fiel im tatsächlich nichts besseres ein, als sich jovial im Plastikliegestuhl zurückzulehnen und in breites Grinsen zu verfallen. Auch die Idee, mich dadurch zu retten, dass wir einander angeblich in gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaft beiwohnten, war keine gute. Denn erstens war es ein Leichtes, diesen Umstand zu widerlegen (nicht zuletzt, weil er nebenbei ausgiebig mit der ihn befragenden Polizistin flirtete) und zweitens haben manche überspannte Großstadtmütter auch kleine Söhne.

Ich hatte mir damals vorgenommen, kein Freibad mehr zu besuchen. Zumindest nicht allein. Dieser Gedanke reißt mich aus der versunkenen Betrachtung der frischgedruckten Eintrittskarte in meiner Hand. Ich bin alt. Quasi aus Solidarität mit dem Öl im Imbisswagen entschließe ich mich also, eine Portion Pommes zu kaufen, das Bad zu verlassen und lieber in den Park zu gehen. Vielleicht finde ja eine Ente, die sich von mir füttern lässt. Ich mag keine Pommes.

Wird ihm im Park eine Ente auf den Rücken springen? Oder gar sein Vorhaben vor Erreichen der Parkbank von schleichender Altersdemenz frühzeitig dahingerafft? Wir werden es nie erfahren. Auch diesesmal nicht. Sorry. Dafür ist es einfach zu heiß ...


(c) 2010 verkomplizissimus

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