Dienstag, 23. November 2010

Ein Mann auf dem Dach

Es braucht mitunter besondere Grenzerfahrungen, um die Wertigkeit der Dinge im eigenen Universum wieder zurechtzurücken. Auf meinem Nachttisch bewahre ich sorgsam einen Splitter der Dachpfanne, die eines frühen Sommermorgens etwa zwanzig Zentimeter vor mir auf den Boden Schlug, um dort malerisch zu zerbersten. Wie genau ich mich noch an diesen Morgen, diesen Wendepunkt meines Lebens, zurückerinnern kann. Es war ja auch erst Vorgestern.

Noch etwas taub vom mit dem Zerbersten einhergehenden Knall schien mir das von oben, dem Dach über dem sechsten Stock aus zugerufen fröhliche "Tschuldigung" einen seltsam hohlen Klang zu haben. Der da rief war Kevin, ein etwa anfangzwanzigjähriger Hilfsdachdecker. Nur knapp neunzehn Zentimeter und wenige Millisekunden trennten Kevin davon, von meinen Hinterbliebenen dermaßen verklagt zu werden, dass er sich einen noch billigeren Vornamen hätte zulegen müssen. Was gemein ist, denn er wird wenig dazu beigetragen haben, dass er so heißen muss. Wobei ich mir manchmal denke, dass er sich - vor die Wahl gestellt - mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit für genau diesen Vornamen entschieden hätte. Er lebt ihn voll aus.

Kevin hat mein Leben verändert. Und er tut es noch. Dem nahen Tod in Gestalt einer zerberstenden, terrakottafarbenen Dachpfanne ins Auge zu sehen, lässt viele Dinge, die zuvor vorgaben, eine Rolle in meinem Leben zu spielen, irgendwie blasser wirken. Eben nicht terrakottafarben. Eher so weiß wie das Gesicht meiner Freundin, als sie nach ihren morgendlichen Yoga-Übungen den Blick hob und in Kevins sonnigstrahlendes Lächeln schaute. Fröhlich saß er auf dem Baugerüst, ließ seine arbeitsbeschuhten Fußspitzen über meinem Balkongeländer pendeln und kaute an einem Mettwurstbrötchen. Ich habe ihr schon mehrfach geraten, sich für diese Übungen und Verrenkungen etwas überzuziehen. Was zum einen meiner Besorgnis über den kühlen Luftzug durch meine Wohnung galt, zum anderen zugegebermaßen auch mit meiner Konzentration auf meine Arbeit zusammenhing, die insbesondere dann nicht leicht zu halten war, wenn sie in die Streck- und Dehnphase ihrer Übungen kam. Schwärmerische Sehnsüchte überkommen mich. Sie hat seit diesem Morgen nicht mehr bei mir übernachten wollen.

Ich würde sie jetzt gerne anrufen. Oder ihr wenigstens eine E-Mail schreiben. Doch beides geht nicht, denn Kevin ist es gelungen, beim Versuch, die Sicherungen für das Oberlicht im Dachstuhl herauszudrehen, das gesamte Haus nachhaltig von der städtischen Stromversorgung abzutrennen. Seit zwei Tagen schon arbeitet ein Expertenteam fieberhaft daran, Strom-, Fernsehkabel- und Telefonversorgung des Hauses wieder herzustellen. Ich persönlich finde Kerzenlicht ja romantisch. Auch, wenn ich wegen der Zugluft viele Streichhölzer verbrauche. Die Scheibe, die Kevin unter Zuhilfenahme einer Gerüststange in einen kleinen Scherbenhaufen unter meiner Fensterbank verwandelte, ist noch immer nicht wieder eingesetzt. Der Glaser traut sich einfach nicht in die Nähe dieses Gebäudes, solange die Bauarbeiten noch in Gange sind.

Mit meiner Nachbarin habe ich versucht, eine Sammlung im Haus zu organisieren. Wir hatten vor, Kevin mit einer Urlaubsreise zu überraschen. Nach El Arenal, oder so. Wobei das Ziel relativ egal gewesen wäre. Ich zum Beispiel war für Turkmenistan. Oder Kirgisien. Hauptsache, er würde bis zum Ende der Bauarbeiten nicht ohne weiteres wiederkehren können. Meine Nachbarin ist eine sehr freundliche, ältere Dame mit einem Hund. Auch sie kommt mich nicht mehr besuchen, denn ihr Hund friert in der Zugluft meiner Wohnung. Als Kevin ihn vor einigen Tagen in seiner unendlichen Tierliebe streichelte und herzte, hatte er leider noch Hände und Kleidung voller Isolierfarbe. Das arme Tier musste komplett enthaart werden.

Die meisten anderen Mitmieter im Haus waren von unserer Idee eher befremdet. Ihnen schien es naheliegender, sich an Begräbniskosten zu beteiligen oder einen Kranz zu stiften; dafür hätten wir schnell viel Geld zusammenbekommen. Immerhin habe ich auf diesem Weg endlich die attraktive Mieterin aus dem Souterrain näher kennengelernt. Zu ihr darf ich jetzt manchmal flüchten, wenn sich die Baumaßnahmen zu absehbar und drohend vor einem Fenster meiner Wohnung zusammenziehen. Ich bin ihr sehr dankbar dafür. Yoga ist allerdings nicht so ihr Ding.

Meinem Auftraggeber habe ich mitgeteilt, dass sich die Fertigstellung des Projektes auf unbestimmte Zeit verschiebt. Wie er diese Nachricht aufgenommen hat, weiß ich noch nicht – seit das Fahrrad des Postzustellers durch einen abgestürzten Schuttcontainer in ein Format gepresst wurde, das locker in einen der von ihm ausgeteilten Umschläge gepasst hätte, macht er einen Riesenbogen um dieses Haus. Arbeit wird ja auch gemeinhin überschätzt. Das spürt man spätestens dann, wenn man jeden Tag gezwungen ist, ums nackte Überleben zu kämpfen.

Freunde raten mir, mich für die Zeit der Bauarbeiten auszuquartieren. Oder ins Ausland zu gehen. Wer aber, frage ich sie dann, soll dann all die kleinen Brände löschen, die Kevin mit seinem Schweißbrenner über den Balkon in meine Wohnung schickt? Wer die tsunamigleichen Wassereinbrüche dämmen, die durch geschicktes Anbohren der Hauptleitungen immer wieder über die Hausgemeinschaft einbrechen? Und wer sich um das angeschlagene Nervenkostüm der attraktiven Mieterin im Souterrain kümmern? Nein. Ich laufe vor den Herausforderungen des Lebens nicht davon. Der Typ bin ich nicht. Ich stelle mich ihnen. Solange ich noch stehen kann. Kevin arbeitet daran.

Ich lausche seinem fröhlichfalschem Pfeifen, während er dabei ist, irgendwelchen Blödsinn mit dem Blitzableiter an der Außenwand auszuhecken. In seiner Welt ist irgendwie alles in Ordnung. Seine gute Laune stabil und unerschütterlich. Vielleicht beneide ich ihn. Ihn quält keine innere Zerissenheit, ihm droht kein Magengeschwür, vor ihm liegt ein langes, glückliches, erfülltes Leben. Wenn ich ihn nicht doch in den nächsten fünf Minuten einfach mal so ein bisschen umbringen muss.

Wird unser Held feststellen, dass es viel schwieriger ist, Dachpfannen bis zum sechsten Stock hinaufzuwerfen, statt sie von dort herunterfallen zu lassen? Entdeckt seine (Ex-)Freundin ihre langverborgene Neigung zum Exhibitionismus? Wir werden es nie erfahren. Dafür wird schon die attraktive Mieterin aus dem Souterrain zu sorgen wissen ...


(c) 2010 verkomplizissimus

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