Dienstag, 23. November 2010

Haltbarkeitsdatum siehe Bodenblech

Wie jeder vernünftige Mensch arbeite auch ich jeden Tag daran, Karma abzubauen. Und doch erwische ich mich immer wieder dabei, Unmengen neuen Karmas auf mich zu laden. Bilder hungriger Kinderaugen verfolgen mich, wenn ich davor stehe Käsereste zu entsorgen, die so sichtbar abgelaufen sind, dass sie drohen, bald auf eigenen Füßen meinen Kühlschrank zu verlassen.

Spätestens seit ich mich einmal notgedrungen damit auseinandersetzen musste, an welchen Kennzeichen man ein Biotop erkennen kann und weiß, dass per Gesetz die Zerstörung eines solchen nur durch Schaffen entsprechender Ausgleichsflächen zu sühnen ist, fühle ich mich kriminell. Zum Beispiel, wenn ich die Reste eines ungegessenen Kopfsalates (immerhin in den Biomüll) überführe. Nur, weil ich wieder einmal mein Leben zu spontan gelebt habe und dann doch am Abend zuvor noch essen gegangen war. Ich verspüre einen gewissen Trotz in mir, dass sich mein Sozial- und potentielles Liebesleben einem rotten Stück Salat unterordnen soll. Doch schnell überwiegt das schlechte Gewissen, jahrelange Forschung in Sachen erdbodenfreier Gemüsezucht und schonender, radioaktiver Bestrahlung durch Niederländische Expertenteams einfach durch Nichtverzehr zu mißachten, als ich das, was sich Gestern noch in Form einer ernstzunehmenden Tomate darstellte, dem Kopfsalat hinterherschicke. Morgen werde ich mindestens einen Baum pflanzen müssen.

Ich gehe mit mir ins Gericht, ob ich zu leichtfertig mit den Segnungen unserer Überflussgesellschaft umgehe. Auch ich kenne Zeiten der Not und des Mangels. Erst letzte Woche, so entsinne ich mich, war außer zwei Scheibchen Knäckebrots, das nicht nur durch den hervorstechend aufgedruckten Preises von „1,59 DM“ bereits einen validen Grad an Museumsreife gewonnen hatte, nichts Essbares in meinen Vorräten aufzutreiben. Und wie um der Weisheit der Cree-Indianer Rechnung zu tragen, dass Geld an sich zum Verzehr weniger geeignet ist, tat eben jenes es meinen Vorräten gleich und beliebte, einfach mal so auszugehen. Ganz ohne mich. Ich hoffe, es hat sich dabei wenigstens trefflich amüsiert.

Ich stellte zwei Kerzen auf, klaute eine Geranienblüte aus dem Blumenkasten des Nachbarn, band mir eine Serviette um den Hals und schloss beim ersten Bissen genießerisch die Augen. Goethe ging mir durch den Sinn. Genauer gesagt: Faust I, Mephistos Monolog aus dem ersten Akt, Vers 1339 ff. - „... denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht ...“. Dieser Bissen Knäckebrot legte im Übermaße Zeugnis von genau dieser Vergänglichkeit ab, die allen Dingen der Schöpfung zu eigen ist. Ihr nachzufolgen erschien mir verfrüht. Kurzerhand entschied ich mich, dem kulinarischen lieber ein ästhetisches Vergnügen vorzuziehen und ließ die Scheibchen im sanften Sommerwind vom Balkon des vierten Stockwerkes zu Boden segeln. Mochten die Tauben ein reichliches Mahl davon haben.

Allerdings machten die Tauben nicht recht Gebrauch von dieser Gelegenheit. Auch heute noch sticht das fahle Weiß der pittoresken Bruchstücke auf des Rasens Grün peinlich deutlich hervor. Seit heute Morgen – und trotz zwischenzeitlicher Regengüsse – hat sich das Bild nur dadurch verändert, dass sich dem Ensemble eine offensichtlich junge und noch viel offensichtlicher äußerst tote Ratte hinzugesellt hat. Im Stillen hoffe ich darauf, das Günther, der Hausmeister, dieser so augenfälligen Schmach Morgen mit seinem Sitzrasenmäher ein Ende bereitet. Wenn dessen Schneideblätter nicht an der Herausforderung zerbrechen. Die des Rasenmähers. Günther trägt ein Gebiss.

Dass nichts auf dieser Welt von Dauer ist weiß ich nicht erst, seit sich in Kindertagen das erste, vom eigenen Taschengeld erworbene Vanilleeis aus der Waffel mit Umweg über mein Knie in Richtung der nächsten Schlammpfütze verabschiedete. Die fortwährende Traumatisierung durch aus meinem Leben scheidende Dinge – ob nun organischer oder anorganischer Natur – hat schon früh meine Hinwendung zu den eher spirituellen Aspekten dieser Welt gefördert. Kein Mensch sollte sein Herz an irdische Güter hängen. Sie sind dafür einfach zu vergänglich. Ich habe diese Lehre des Universums früh und umfassend verstanden. Deshalb verfolge ich mit leichter Verstörtheit, dass das Universum nicht darin nachlässt, mir diesen Umstand immer und immer wieder plastisch vor Augen zu führen. Wobei ich es für seine Kreativität dabei immer wieder auch loben muss.

Mein Toaster, zum Beispiel, geht nicht einfach kaputt – er muss in Flammen aufgehen. Gut, er war ein Jugenstil-Toaster, Baujahr 1923, und wahrscheinlich den Herausforderungen modernen Toastbrots nicht mehr vollständig gewachsen. Ich kann meine Armbanduhr nicht einfach verlieren, sondern sie muss im Rahmen einer Kenterungsaktion im Verlauf einer Kanufahrt an einem Feldstein auf dem Grunde der Alster zerschellen. Und auch mein Fahrrad kann nicht einfach gestohlen werden oder kaputt gehen, sondern muss von einer fehlgeleiteten Dampfwalze überrollt werden. Was ehedem eine Klingel war ziert noch heute die letzte Seite meines Poesiealbums. Wie gesagt – ich arbeite Karma ab. Und das jeden Tag.

Wobei ich nicht verschweigen möchte, dass es immer wieder auch schöne Momente gibt. Ich denke da zum Beispiel an einen wundervollen Sonnenuntergang, den ich aus dem Fahrerhaus eines Lastkraftwagens miterleben durfte. Weit konnte der Blick von den Brücken über die Lande und die Farbenpracht des Abendhimmels schweifen – unbehindert von Zäunen oder Leitplanken durch die erhöhte Position. Aus meinem kleinen, blauen Auto heraus wäre mir dieser Anblick niemals so zuteil geworden. Das machte den Umstand fast vergessen, dass eben dieses kleine, blaue Auto in diesem unvergesslichen Moment nur wenige Meter hinter mir auf der Ladefläche des Abschleppwagens stand und Egons traurigem, finalen Kopfschütteln entgegen gefahren wurde. Ein Stein hatte den Kühler durchschlagen und jener daraufhin alles darin befindliche Wasser an die umliegende Spontanvegetation verteilt. Ich hoffe, es ist ihr besser bekommen als meinem Motor. Der hatte sich dann festgefressen.

Egon - um das noch aufzuklären - ist mein KFZ-Meister. Wir haben eine Menge zusammen durchgemacht. Doch Egon liebt seinen Beruf. Und ich liebe Egon. Gut, nicht so, wie ein Mann eine Frau lieben kann. Oder natürlich auch ein Mann einen Mann, eine Frau eine Frau und was weiß ich nicht noch alles, was Liebe auf diesem Planeten so alles vollbringt. Aber ich denke es ist klar, wie ich das meine. Egon wusste, wie nahe mir der Verlust des kleinen, blauen Kumpanen gehen würde. Er brachte es mir schonend bei. „Tja – dat Ding is wohl in'n Dutt. Dat ward nix mehr.“

Ich neige nicht allzu sehr zu offenen Gefühlsbekundungen in der Öffentlichkeit. Leugnen kann ich dennoch nicht, dass mir damals wohl eine kleine Träne die Wange hinabgeronnen ist. Zu viele ver- und gemeinsam durchfahrene Momente meines Lebens schossen mir durch den Kopf. So viele knapp überstandene Katastrophen. Und auch der eine und dieser andere schöne Moment. Egon musste das gesehen haben. Sanft fasste er mich am Ellenbogen und führte mich hinter seine Werkstatt. Dort stand ein kleiner, frech dreinblickender, nur zu zwei Dritteln von Rost zerfressener, ehedem roter VW Käfer. Vom Baujahr her trennten uns zwei nur wenige Monate. Skeptisch, doch irgendwie auch fasziniert schlenderte ich damals um den Wagen. Auf der absurd kleinen Motorhaube am Heck prangte ein Aufkleber: „Haltbarkeitsdatum siehe Bodenblech“. Ich musste ihn sofort kaufen.

Welche Unbill des Schicksals wird nun das Ende des kleinen, noch frech dreinblickenden Käfers besiegeln? Wird das ausgegangene Geld am nächsten Morgen unrasiert, reumütig und schwer verkatert vor der Wohnungstür stehen? Wir werden es nie erfahren. Denn schließlich soll man sein Herz nicht an materielle Güter hängen. Was soll es da auch. Besser, man verschenkt es im rechten Augenblick ...


(c) 2010 verkomplizissimus

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