Dienstag, 23. November 2010

Vom Wandeln in der Beständigkeit

Es gibt Augenblicke, die zur inneren Einkehr rufen. Nehmen wir diesen Moment, als mein drittliebstes, soziales Netzwerk mir glaubhaft versicherte, ich hätte alle Nachrichten, die ich in den letzten vierundzwanzig Stunden herausgeschickt hatte, an mich selbst gerichtet. Als grundsätzlich ohnehin zur multiplen Persönlichkeit neigender Mensch, der es schon als Erfolg feiert, morgens aus dem Bad zu kommen und insgesamt weniger als drei Zahnbürsten benutzt zu haben, stürzen mich solche Rückmeldungen in tiefere Sinnkrisen.

Ich neige dann dazu, mit der Welt im allgemeinen und mir im besonderen wie wild herumzuhadern. Wo es doch eigentlich nur den Verlust des Netzwerkcharakters und des sozialen Austauschs zu beklagen gibt (die Bannerwerbung funktioniert ja nach wie vor prächtig), schweifen meine Gedanken ab und verlieren sich in all dem, was verloren ging. Oder mir genommen wurde. Und mit welch fadenscheinigem Ersatz die Welt mir dann beizukommen versucht.

Denken wir zum Beispiel an die Zeit vor dem Frühstücksfernsehen zurück. All die verträumten Morgenstunden im kuschligen Bett, die wir uns durch Schauen der Telegymnastik vor Start des eigentlichen Programms verzaubert haben. Ich habe lange gebraucht, um diese, meine Lieblingssendung wiederzufinden. Und wie sehr sie sich verändert hat. Zum einen ist sie auf einen Sendeplatz nach 23:00 Uhr und zum anderen auf Randgruppensender wie DSF und DAS VIERTE verrutscht. Gut, ich gebe zu, dass die musikalische Untermalung gefälliger, die Trainingskleidung interessanter (sowie irgendwie auch flexibler) und die Form der (zumeist) Einzelpräsentationen insgesamt auch intimer geworden ist als früheres Gruppengeturne. Aber. Die Übungen. Meine Güte. Ich bin in meinem Eifer ja stets bemüht, wenigstens die leichteren Bewegungsabläufe mitzuturnen, was in Ermangelung von Billardtischen, Tennisnetzen und Whirlpools gar nicht immer so einfach ist. Wer denkt sich solche Requisiten aus. Aber die in Folge dieser Leibesertüchtigung aufgebauten Muskelpartien wirken an meinem ansonsten schreibtischarbeitsgestählten Beraterkörper irgendwie ... befremdlich. Immerhin erhalte ich in letzter Zeit oft Rückmeldungen darüber, dass meine Bewegungen weicher und „irgendwie runder“ geworden seien. Und morgens zum Aufstehen quält man mich dafür mit Börsennachrichten und Neuem aus der Prominentenszene. Herzlichen Dank.

Zum Glück gibt es, wenn die Welt sich wieder einmal viel zu schnell dreht, kleine Rückzugsmöglichkeiten. Meine habe ich von einem nächtlichen Spaziergang durch die Hansestadt Bremen mitgebracht, wo ich sie in einem Schuttcontainer vor der in Umbau befindlichen Wirtschaftsbehörde fand. Oder vielmehr „ihn“ - denn es handelt sich um einen kleinen, mit grünem Kunstleder bezogenen, vierbeinigen Schreibtischstuhl: so ein richtiger Stuhl, so wie ein Kind ihn malen würde, ohne Rollen, aber mit Armlehnen. Er hat gut und gerne seine vierzig Jahre Behördendienst geleistet. Kaum, dass ich in ihm Platz genommen habe, überkommt mich eine tiefe, innere Ruhe und Gelassenheit; von meinem Umfeld gern als mittelschwerer Anflug von Schläfrigkeit missverstanden. Sämtliche Einwirkungen der Außenwelt prallen an der beständigen Aura, die dieses Sitzmöbel umgibt, einfach ab und ich kann mich tieferen Meditationen zuwenden. Wenn ich dann wieder genug Kraft gesammelt habe, um mich aufzurichten (der Stuhl lässt mich das von sich aus spüren), sind unmerklich schnell drei bis vier Stunden vergangen und mein Geist wird – je nach Tageszeit - von konkreten Gelüsten wie Filterkaffee, Kantinenessen oder Heimweh geplagt. Da der Stuhl bei mir Zuhause steht und ich weder über eine Kantine verfüge noch meinen Kaffee mit Filtern herstelle, ist das der einzig kleine Nachteil, den diese Oase mit sich bringt. Aber irgendwas ist ja immer.

Seltsam genug, dass gerade dieser letzte Satz genau im Zusammenhang mit eben diesen Behörden und komplementären öffentlichen Anstalten bei mir gern seine volle Wirklichkeit entfaltet. Ich sollte dabei klarstellen, dass ich überhaupt nichts gegen Behörden habe. Zum einen wäre die Gefahr zu groß, dass ich es sonst auch anwenden würde, zum anderen schätze ich über die Maßen die augenzwinkernde Kreativität, die zum Beispiel für den grasblumigen Wildwuchs an Straßenrändern den amtlich korrekten Ausdruck „standortgerechte Spontanvegetation“ erfunden hat. Wer so etwas ausheckt, kann nicht recht bei Trost sein und genießt damit meine ungeteilte Sympathie. Immerhin gibt es in Behördenräumen beruhigend wenige Billardtische, Tennisnetze und Whirlpools. Und jeder Mensch braucht eine Aufgabe.

Zu meinen Aufgaben in diesem Leben gehört es augenscheinlich, Behördenangestellte vor echte Herausforderungen zu stellen, wofür sie sich dann in der Regel postwendend und ausführlichst revanchieren. Als Europäer, der irgendwie in der ganzen Welt zuhause ist, in einer norddeutschen Großstadt wohnt, seine Meldeadresse aber in einer eher strukturschwachen, ländlichen Gegend angesiedelt hat, mache ich es den armen Amtfrauen und -männern zugegebermaßen nicht immer einfach. Spätestens seit ich mit dem vorvorletzten Jahresausgleich um einen „Verlustvortrag aus entgangenen GmbH-Gewinnen“ ersucht hatte, hängt mein Konterfei schon beim Pförtner des Finanzamtes unter dem Tresen. Aus zuverlässiger Quelle wurde mir das damalige, dreiteilige Ersuchen um Amtshilfe bei der Oberfinanzdirektion zugetragen: „1. Was will der? 2. Wie geht das? Und 3. Darf der das?“ Ich versuche eben, den Aufgaben, die mir das Universum stellt, so umfassend wie möglich nachzukommen.

Kennenlernen durfte ich dabei allerdings auch – das darf nicht verschwiegen werden – eine umfassend reizende Finanzbeamtin in der Blüte ihrer Jahre, deren berufliche Ausrichtung in gewisser Weise zur sozialen Isolation geführt haben mag. Als ich in gewohnter Büßerhaltung vor ihrem Schreibtisch kniete und dabei beobachtete, wie sie kopfschüttelnd mit ihrem Kugelschreiber bald hier, bald dort etwas in den von mir vorgelegten Formularen zu bemängeln hatte, fiel mir zumindest auf, dass sie keinen Ehering trug. Abgestumpft durch die laute und oberflächliche Welt der Agenturparties, Filmfestivals und Fernsehempfänge begab ich mich auf die Suche nach subtileren Details, um ihr irgendetwas nettes sagen zu können. Vielleicht – ich gebe es gern zu – rechnete ich mir insgeheim aus, sie damit ein wenig milder stimmen und zumindest im Stillen ein wenig für meinen Antrag begeistern zu können. Selbst meinen Zauberstuhl hätte ich ihr vielleicht leihweise überlassen.

Ich hatte sie dann nur ein ganz klein bisschen weniger lieb, als sie mir lächelnd den Stapel Formulare zurückreichte. „Das müssen sie wohl alles noch einmal ganz neu schreiben.“ Eben genau wie meine Nachrichten bei myspace. Schön, dass es in dieser so schnellen Welt noch immer Dinge gibt, bei denen man sich darauf verlassen kann, dass sie sich niemals wirklich ändern werden.


Wird unser Held nun die Finanzbeamtin durch Vorturnen im Fernsehen gelernter Figuren beeindrucken können? Und wird er jemals wieder in der Lage sein, über myspace Nachrichten zu senden, ohne sie angeblich nur an sich selbst adressiert zu haben? Wir werden es nie erfahren. Zumindest nicht über ein soziales Netzwerk, das sich viele, viele Käferchen als ihre Hängematte ausgesucht haben.


(c) 2010 verkomplizissimus (nach Diktat verreist)

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