Dienstag, 23. November 2010

Auf acht Beinen ins Nirwana

Der Buddha lehrt, mit Entlarvung des „Ich“ als Täuschung sei der Geist des Menschen in der Lage zu erkennen, dass er selbst es ist, der frei den Raum unserer Wahrnehmung durchdringt und phantastische, verspielte Dinge hervorzubringen vermag. Der Zustand der Erleuchtung lässt uns erkennen, dass es zwischen dem Selbst und den Dingen, die uns umgeben, in Wirklichkeit keine Trennung gibt. Der Umstand, mich so radikal wie möglich von der mich aktuell umsurrenden Stechfliege abgrenzen zu wollen, mag ein Indiz dafür sein, wie weit ich noch von eben diesem Zustand der Erleuchtung entfernt bin.

Und überhaupt. Sechs Tage und Nächte verharrte Siddhartha unter seiner Pappelfeige (Ficus religiosa) bei Bodhgaya in tiefer Meditation. Ich schaffe es keine fünf Minuten, irgendwo auch nur auf einer Parkbank zu sitzen, ohne von Schwadronen schwer arbeitender Ameisen bekrabbelt, durch kundschaftende Wespen beknabbert und nebenbei von vermehrungswütigen, weiblichen Wesen blutrünstig ausgesaugt zu werden. Männliche Mücken stechen nämlich bekanntermaßen nicht. Aber das nur nebenbei. Obschon sich also auf diesem Weg die Verbundenheit mit aller umgebenden Welt geradezu spürbar aufdrängt, mag sich ein Gefühl innerer Ruhe und Ausgeglichenheit so recht nicht einstellen. Was läuft da schief? Blicke ich auf die leblosen Reste der Mücken, Ameisen und anderer, vielbebeinter Ex-Lebensformen zu meinen Füßen, verfestigt sich die Gewissheit, gerade wieder um einige Reinkarnationen weiter zurückgeworfen worden zu sein. Wieso kann die Liebe, die ich für die Welt und alle in ihr lebenden Dinge empfinde, diese archaischen Reflexe nicht überwinden, die mich immer wieder töten, töten, töten lassen?

Was mich spontan an den Nachbarn vom Flur schräg gegenüber denken lässt. Der hatte ganz vergleichbare Reflexe bei mir ausgelöst, als er sich vor meiner Haustür mit treuem Dackelblick erkundigte, ob seine Waldtraut nicht zufällig mir zugelaufen sei. Er würde sie bereits seit Gestern vermissen. Waltraud ist eine in ihrer Spannweite (gefühlt) etwa siebenundzwanzig Zentimeter messende, illegal von ihm aus dem Amazonasdelta importierte Vogelspinne. Spinnen rette ich gemeinhin. Dieses, seit frühester Jugend antrainierte Verhalten hat mir schon den Respekt (und nächtlichen Hilferuf per Telephon) so mancher Dame eingebracht. Allerdings beschränkt sich dieses Schutzverhalten eher auf die hier ortsansässigen, natürlich vorkommenden Arten und Gattungen. Auch, wenn diese nur zu oft unter Sofas und Küchenschränken eben nicht vorkommen, sondern nachdrücklich auf ihrer dortigen Ortsansässigkeit beharren. Mit Spinnen verbindet mich die Hoffnung, dass diese wacker ihren natürlichen Bedürfnissen nachgehen und mich so von Zeit zu Zeit davor bewahren, um immer mehr Reinkarnationen nach hinten geworfen zu werden. Mit Vogelspinnen verbinden mich andere Dinge. Auf einer eher emotionalen Ebene. Und auch wieder mehr trennend als denn verbindend.

Mein Leben in der darauf folgenden Zeit hob sich deutlich von anderen Epochen meines dumpfen Daseins ab. Ganz ohne meditativen Geleitschutz (stundenlang mit geschlossenen Augen auf dem Boden zu sitzen erschien mir in jenen Tagen eher weniger angemessen), waren meine Sinne aufs Äußerste geschärft und auch den geringsten Eindrücken der Umwelt gegenüber – mag es nun ein leises Rascheln oder eine flüchtig im Augenwinkel wahrgenommene Bewegung gewesen sein –  ungewöhnlich aufgeschlossen. Längst verloren geglaubte, soziale Kontakte erfreuten sich erneuter Belebung, bekräftigt durch den einen und auch den anderen, spontanen Besuch (außerhäusig) meinerseits. Und nicht immer wunderte man sich nur wenig, wenn aus einem spontanen „mal Vorbeischauen“ dann ein ausgedehnterer Übernachtungsbesuch wurde – aber hatten wir denn nicht so nett beisammen gesessen? Viel zu nett, um einen wundervollen Abend schnöde einfach abbrechen zu lassen und durch die dunkle, kalte Nacht nach Hause zu laufen. Es gibt deutlich schönere Dinge, die sich morgens neben einem unter der Bettdecke finden lassen als entlaufene Vogelspinnen.

Das klingt jetzt viel gefühlloser und egoistischer, als ich an sich veranlagt bin. Ehrlich. Mein Leben ist durch den Respekt und die Liebe geprägt, die ich dieser Welt und allen lebenden Dingen entgegenbringe. Auch, wenn beides mitunter bei Überschreiten einer Höchstbeinanzahl von vier einer harten Prüfung unterzogen wird. Und ich nur zu oft eingestehen muss, vor den Herausforderungen, welche das Leben mir in dieser Form summend und in unermesslicher Vielzahl entgegenschickt, zu versagen. Wenn auch mit schlechtem Gewissen. Voller Schrecken denke ich an die Tage zurück, in denen ich noch Mittel in Gebrauch nahm, die ich heimlich von Reisen in die Arabische Welt und tropische Regionen hierher geschmuggelt hatte. Dort frei verkäuflich, fallen sie hierzulande mindestens unter das Kriegswaffenkontrollgesetz. Doch zuzuschauen, wie der Chitinpanzer meiner kleinen, lästigen Mitkreaturen nach kurzer Besprühung in sofortige Auflösung überging, brach mir dann doch das Herz.

Und so war es auch mit der Freundin, bei der ich wahrlich nicht nur aus Eigennutz Schutz suchte. Also – nicht, dass ich sie je mit Mitteln besprüht hätte. Auch trägt sie eher selten einen Chitinpanzer. Allerdings war sie, als sich ehedem zarte Bande zwischen uns entwickeln wollten, nach mächtigem Getächtel zunächst vom Nachbarn schräg gegenüber an- und schließlich fast bei ihm eingezogen. Bis sie das mit den Vogelspinnen spitz bekam. Doch da war es für unsere frühe Beziehung schon zu spät. Und so, wie sich der Geist sein Universum schafft, habe ja vielleicht auch ich die entlaufene Vogelspinne geschaffen, um einen Anlass zu finden, erneut zart anzubandeln. Wie gründlich ich dabei vorgegangen bin (beim Erschaffen, nicht beim Anbandeln) mag man der Tatsache entnehmen, dass sich die Vogelspinne bis heute nicht wieder angefunden hat. Ich bin dann ausgezogen und habe mir neue Möbel gekauft. Wie lange sich der Nachmieter an der ihm überlassenen Einrichtung erfreuen konnte, bis er mutmaßlich von Waldtraut dahingemeuchelt wurde, ist nicht überliefert. Ebensowenig wie die Antwort auf die Frage, wie sich das potentiell auf Waldtrauts Karma und Reinkarnationsverhalten ausgewirkt haben mag. Wenn ich jetzt an meinen Ex-Nachbarn denke ... sicherlich nur positiv.

Denn - so schließen sich die Kreise des Lebens immer wieder von Neuem zu einem einzigen, großen Rad. Eine endlose Kette von Nachbarn, Beinahe-Freundinnen und Vogelspinnen. Ein Leben immer wieder fern von daheim, ein Erwachen unter immer wieder fremden Bettdecken. Das Verlangen nach Mitteln, die unter das Kriegswaffenkontrollgesetz fallen und die Reue danach. Noch und noch und noch einmal. Es sei denn – es sei denn, man entscheidet sich ganz einfach: bewusst dagegen. Vertreibt Stolz, Eifersucht, Anhaftung, Unwissenheit, Geiz und Zorn aus seinem Leben. Om mani peme hung. Und ab auf den Pfad der Liebe. Ob er mich nun tatsächlich bis nach Tibet führen wird? Zumindest gibt es nach Überschreiten der Baumgrenze wahrscheinlich wesentlich weniger Insekten, die einen beim Meditieren stören ...

Wird unser Held, auf welchem Pfad auch immer, Tibet jemals erreichen? Oder werden ihn die weiblichen Blutsauger zuvor vollends unter die Räder geraten lassen? Wir werden es nie erfahren. Denn dem Autor dieser Zeilen fällt gerade ein, dass er beim Einzug in diese Wohnung einige Möbel vom Vormieter übernommen hat und er schaut wohl besser ganz schnell mal nach, ob da nicht irgendwo ...


(c) 2010 verkomplizissimus

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