Dienstag, 23. November 2010

Der schmerzvolle Weg aus der Lebenskrise

Wie leicht dieses Leben aus allen Fugen gerät. Nichts scheint mehr zusammen zu passen, alle Wege scheinen nebulös und verworren, der rote Faden ist zu einer Schlinge geworden, die sich immer enger um den eigenen Hals zieht. Menschen in diesen Situationen suchen oft Zuflucht in fernöstlichen Religionen, psychatrischen Therapien oder öffentlichen Sportveranstaltungen.

Ich wende mich mit solcherlei Lebensfragen meist an meinen Zahnarzt. Das habe ich von Günther Grass gelernt und es hat den Vorteil, dass ich die wunderbar beruhigende Wirkung eines weißen Kittels genießen kann, ohne gleich die Mühsal eines stationären Aufenthalts auf mich zu nehmen. Darüber hinaus verfügt mein Zahnarzt im Rahmen einer Behandlung über unmittelbare Sanktionsmöglichkeiten für den Fall, dass ich etwas ausgesprochen Dummes sagen sollte. Ich wähle meine Worte also mit einer gewissen Sorgfalt. Es sei vermerkt, dass mein Zahnarzt deshalb nicht minder oft von seinen Sanktionsmöglichkeiten Gebrauch macht. Manchmal kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er dabei so etwas wie eine dunkle Freude empfindet. Der Mensch lebt halt nicht vom Brot allein.

Was führt Sie hierher, lautet die lächelnde Frage, kaum fünf Minuten nachdem ich im Behandlungsstuhl Platz genommen und den weißgekittelten Rücken meines Nothelfers fixiert habe, der auf seiner Arbeitsfläche vor mir verborgen konzentriert irgendwelchen alchemistischen Tätigkeiten nachgegangen ist. Ich verkneife mir die Bemerkung, die sich auf die zahlreichen Hinweisschilder an der Hauswand, im Flur und schließlich an der Tür der Praxis bezogen hätte, und gehe gleich in medias res. Meine Freundin droht damit, mich zu verlassen. Nun – und ich kann nicht verhehlen, dass es auch dieser routinierte Blick ist, den er jetzt aufgesetzt hat und mit dem er gemessen auf mich zuschreitet, der mich immer wieder hierher führt – schauen wir uns die Sache mal an. Bitte ganz weit aufmachen.

Dieser Augenblick, den Kopf in den Nacken gelegt und alle Sinne dem geöffnet, was nun kommen mag, ist von magischer Anspannung. Nuschelnd raunt der Meister seiner dezent im Hintergrund platzierten und ansonsten nicht weiter erwähnenwerten Helferin Zauberformeln zu, während sein geminisvoller, kleiner Metallstab durch die schnöde Oberflächlichkeit meines Zahnschmelzes tief in mein Innerstes vordingt. Woher nimmt dieser Mann die traumwandlerische Sicherheit, gleich mit dem ersten Vorstoß genau den Nerv zu treffen? Dreier oben links kariös, Vierer fehlt, Fünfer ... In die tiefe Besorgnis seines Blick, den er jetzt zum ersten Male voll auf mich richtet, hat sich so etwas wie die Erschütterung eingeschlichen, die aus der endgültigen Erkenntnis aller Sinnlosigkeit dieser Welt im Allgemeinen und des Daseins im Besonderen herrührt. Vielleicht erinnert er sich auch noch an meinen letzten Besuch und weiß daher, dass ich gar keine Freundin habe. Ich entschließe mich, einen neuen Anlauf zu nehmen.

Mein Girokonto ist überzogen, gestehe ich offen. Nun stellt es die menschliche Physiognomie vor eine gewisse Herausforderung, das Wort „Girokonto“ akzentuiert hervorzubringen, wenn einem gerade von einem Plastikstaubsauger der Mundwinkel bis etwa auf Bauchnabelhöhe heruntergezogen wird. Alle Übungen, die ich daheim mit zunächst dem kleinen Finger, schließlich der geballten Faust in der Mundhöhle vor dem Spiegel unternommen habe, zahlen sich in diesem Moment nicht aus. Sie hätten früher kommen sollen.

Dieser Satz trifft mich hart. Und er steht im direkten Gegensatz zu dem, was mir einmal eine Dame in einem intimen Moment, lächelnd zwar, doch nicht ganz ohne Vorwurf, als Lebensweisheit mit auf den Weg gegeben hat. Seit diesem Augenblick habe ich Vieles darauf ausgerichtet, dem Rechnung zu tragen. Und nun konfrontiert mich dieser Mann, der mir durch sein Tun gerade deutlich zeigt, dass es auch unter Akademikern echte Handwerker geben kann, mit dieser Aussage. Ich bin verwirrt. Wo liegen die Grenzen dieser Pole? Wie stehen „früher“ und „später“ zueinander? Was ist Zeit?

Zumindest bei der letzten Frage bekomme ich eine echte, handfeste Hilfe mit auf meinen Weg hinaus aus der Praxis. Ein Zettel, kaum so groß wie meine Handfläche, in kleiner Schrift und beidseitig mit einer Auflistung von Terminen befüllt, die für die Folgebehandlungen notwendig seien. So etwas kann einem Leben wieder feste Strukturen geben. Leicht benommen wanke ich die Stufen in diese Welt dort draußen hinunter. Nach diesem spirituellen Erlebnis, nach diesem Blick über die letzte Grenze und alle Mauern des Daseins hinweg in die Unendlichkeit des Jenseits, fällt es mir zunächst schwer, mich wieder in die Welt zurückzufinden. Doch schnell macht sich die befriedigende Erkenntnis bemerkbar, dass all die Probleme, die heute Morgen noch mein Denken bestimmt haben, gefühlt so klein und so unbedeutend geworden sind. Etwas anderem gelingt es, meinen Geist und meine Sinne vollkommen auszufüllen und alles andere dagegen in den Hintergrund treten zu lassen. Ich habe Zahnschmerzen.

Wird sein Girokonto ihn nun verlassen? Seine virtuelle Freundin überzogene Forderungen stellen? Und er den nächsten Termin nun überhaupt noch wahrnehmen? Wir werden es nie erfahren. Denn während wir diese Zeilen lesen, haben sich längst ganz neue, ungeheuerliche Dinge auf dieser Welt ereignet. Im Tanz um die Mitte des Lebens. Macht mal jemand die Musik etwas lauter, bitte?

(c) 2010 verkomplizissimus

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