Dienstag, 23. November 2010

Im Netz der Abhängigkeiten

Als Verfolger eines an sich eher polytoxischen Lebensstils gibt es hinreichend Gelegenheiten, sich an selbstgebastelten Fremdbestimmungen in meinem Alltag zu erfreuen. Wenn ich daran denke, was mir an Erlebnissen hätte entgehen können, wäre ich nicht gegen vier Uhr in der Früh in die Not geraten, nach einer noch geöffneten Tankstelle zu suchen, um Nikotin oder Koffein zu erwerben ... mein Leben wäre an manchen Stellen gewiss anders abgebogen, als es das tat. Möchte ich diese Momente missen? Ich will sagen: überwiegend wohl ja. Versuche ich doch ansonsten tapfer, mein Leben so weit irgend möglich selbst in der Hand zu halten und wo immer es geht zu vermeiden, von irgendetwas oder irgendjemandem abhängig zu sein. Und sei des nur der Schönheitsschlaf eines Tankstellenbesitzers.

Um wie vieles schlimmer dann die Erkenntnis, wenn sich insgeheim etwas eingeschlichen hat, das meinen Alltag fester im Griff hält, als mir zunächst bewusst war. Bis jetzt den dunklen Kreislauf der Beschaffungskriminalität vermieden zu haben steht auf der einen Seite. Die eigene Komfortzone durch ständige Verfügbarkeit grundlegender Ressourcen unbotmäßig auszudehnen, auf einer anderen. So wird uns doch erst im Schlund eines Vulkans, am Grunde des Ozeans, in erdnaher Umlaufbahn oder bei einem Behördengang auf einen Donnerstagnachmittag klar, dass die Luft, die wir atmen, eine wertvolle wie auch zuweilen knappe Ressource ist. Luft sollte uns allerorten umgeben und ist im besten Falle weitgehend unsichtbar sowie geruchs- und geschmacksneutral. Damit kommen wir dem eigentlichen Thema zaghaft einen Schritt näher.

Meine vom Wirtschaftlichkeitswahn gebeutelten Kunden („Es wird gespart, koste es, was es wolle“) treibt es zwar in der Regel nicht in Behördenräumlichkeiten, ansonsten aber durchaus immer häufiger an die Randzonen menschlicher Zivilisation. Legosteingleich zusammengesteckte Containermodule, die sich – fern der großen Städte - harmonisch in Auenwiesen, ausgedehnte Waldgebiete oder touristisch wenig attraktive Küstenregionen schmiegen, erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Und reißen selbst den geübten Berater aus dem gewohnten Reisetrott. Ergänzen zum Beispiel Outdoor-Kleidung, Ein-Mann-Zelt und Gummistiefel in seiner Garderobe und pures Abenteuer auf seiner Wochenagenda. So weit, so gut.

Dass Firmennetzwerke in der Regel für anrüchige Seiten, auf denen Menschen vorrangig Nachrichten miteinander auszutauschen pflegen, gesperrt sind, folgt der Logik der Legosteincontainer. Dass mein ohnehin fragiles, fragmentiertes und spärliches soziales Netzwerk vital auf eben diese Seiten angewiesen ist, folgt wiederum der Logik des Beraterdaseins. Interessenausgleich schaffen hier in der Regel die Breitbandangebote der um die Legosteinenklaven angesiedelten Containerhotels. Zumindest sollten sie das. Schlimm wird es erst, wenn sie fehlen. Und durch anheimelnde, familiengeführte, schmucke Pensionen ersetzt werden, die seit urerdenkllichen Zeiten fahrenden Ochsenhändlern, übernächtigten Zechern oder reisenden Versicherungsvertretern Herberge geboten haben. Wasser wird auf Wunsch in Holzeimern aufs Zimmer gebracht und die einzige Form von Netzzugang, von der man hier jemals gehört hat, ist weiter unten im Dorf beim Flewmaker zu finden. Der würde jetzt schon in der dritten Generation die Fischer der Umgegend mit Arbeitsgerät versorgen. Gewiss seien sie einwandfrei. Ob sie aber auch IBM-kompatibel sind, sei nicht überliefert. Zum Glück und zur Not habe ich auch noch ein Dell-Notebook dabei.

Doch ein Notebook, gleich welcher Herkunft, bleibt ohne Netzzugang eben nur ein Rechner. Und ungefähr so kommunikativ wie ein Badezimmerspiegel. Man kann Solitär spielen, an seinen Memoiren oder dem Buch schreiben, dass man doch schon seit zwanzig Jahren im Kopf hat, oder es nebenbei für die Dinge nutzen, für die einen der Arbeitgeber eigentlich bezahlt. Doch ich habe ein Recht auf Freizeit. Ein Recht auf Sozialleben. Und ich habe ein Smartphone.

Die Erinnering an jenen Monat, in welchem meine Mobiltelephonrechnung den kühnen Sprung weit in den vierstelligen Euro-Bereich hinein wagte, ist einer jener Momente, die mich mein Leben lang begleiten werden. Der genauere Blick in die Rechungsdetails offenbarte, dass für jede im befreundeten Ausland hergestellte Internetverbindung eine kleine, verschmitzte Gebühr erhoben wurde. Die nicht weiter erwähnenswert gewesen wäre, an sich. Würde mein Telefon zwecks Abfrage meiner E-Mails nicht etwa alle 20 Sekunden eine Internetverbindung herstellen. Und das ca. 24 Stunden am Tag. Angesichts dieses Grundrauschens fielen die Datenübertragungskosten von mehreren Euro pro MB fast gar nicht mehr ins Gewicht. Meinen Kunden rate ich stets und gern, aus Performance-Gründen ihre Webseiten leicht und schlank zu halten. Selten war mir so klar wie in diesem Moment, wie sehr ich damit wirklich recht hatte.

Seit dieser Disziplinierung bin ich brav und deaktiviere im Ausland die Datendienste meines Mobilfunkproviders. Das ist kein leichter Schritt, raube ich damit doch meinem Telephon so ziemlich alles, was es vom Grunde her „smart“ macht. Wer sich an die Szene im Film „2001 – A Space Odyssey“ erinnert, in welcher Dave (mit – zugegeben – besseren Gründen als ich) HAL 9000 die Platinen aus dem Leib reißt, weiß, wovon ich hier schreibe. Nach drei Tagen ohne Kontakt zur Außenwelt bewegte sich meine Stimmung folglich irgendwo zwischen Ligeti und Strauß-Walzern. Zu dumm, dass ich mich die meiste Zeit meines Lebens im Ausland aufhalte. Nach Stunden sinnlosen Dahinmeditierens über den weißen Bildschirm meines Laptops erschreckte mich der Blick in den wirklichen Badezimmerspiegel. Verloren starrten mich zwei blutunterlaufene Augen aus einem graufahlen, weißfleckigen Gesicht an. Ein eilends angestellter Vergleich mit meinem Passphoto legte Zweifel nahe, doch die Synchronizität von Bewegungsabläufen trat den erschütternden Beweis an, dass tatsächlich ich es war, der mir da entgegenstarrte. So konnte es nicht weitergehen.

Mit zitternden Fingern und kaltem Schweiß auf der Stirn tippte ich im Fieberrausch die Tastenkombinationen, welche die Datendienste meines Telephons wieder aktivierten. Geld ist sowieso nur virtuell und kann angesichts der wirklich entscheidenden Dinge des Lebens zu einer so nebensächlichen Sache werden. Endlos zogen sich die Millisekunden dahin, bis endlich das kleine, vertraute, so lieb gewordene „Ich bin online“-Symbol im Display auftauchte. Erschöpft sank ich in die fremden Kissen des Hotelbetts zurück. Mit jedem Pieps, der vom Eintreffen einer neuen E-Mail kündete, durchflutete mich eine neue Welle aus Dopamin und Serotonin. Die verhärteten Muskeln meines Gesichts deformierten sich mehr und mehr zu einem seeligen Lächeln. Etwa eine halbe Stunde hielt dieser Zustand an und brachte wieder ein wenig Farbe in mein Gesicht.

Bis ich begann, die E-Mails zu lesen. Fast alle benachrichtigten mich über neu erschienene Blogs, für die ich einst ein Abonnement angenommen hatte. Nur. Dass sich die mit dem Mails verschickten Links auf eben diese Blogs nicht öffnen ließen. Zumindest nicht von meinem Telephon aus. Etwas kaltes fasste nach meinem Herzen. Ich öffnete den kleinen Browser im winzigen Display; rief meine eigene Seite auf. Gut. So konnte ich lesen. Nicht nur meine Seite, auch die mancher meiner virtuellen Freunde. Zumindest derer, die ihr Profil nicht nur für ebensolche öffneten. Denn ich bin ein eher bequemer, mitunter sogar zur Faulheit neigender Mensch. Somit lag mein Passwort, akkurat kryptographiert, in den Niederungen meines Laptops verborgen. Weniger hingegen in den Niederungen meiner Gehirnwindungen. Angeblich ist es ja so, dass ein Mensch niemals auch nur ein kleines Detail, das sich einmal in das Geflecht seiner Neuronen eingeflochten hat, wirklich vergessen kann. Ich wage das zu bezweifeln. Einloggen konnte ich mich also nicht.

In meiner Jugend gab es einen recht einprägsamen Fernsehspot, der für einen mit Kohlensäure versetzten und in Dosen abgefüllten Eistee warb. Er zeigte einen in wüstenhafter Umgebung bis zum Kinn eingegrabenen Gefangenen, dessen haarloses Haupt in der Sonne sengte. Ein sadistischer Wärter steckte vor seinen Augen eine eben dieser Dosen in den Sand und zwang ihn, den Text auf dem Etikett laut vorzulesen. Mit dem letzten Satz („Schmeckt eisgekühlt am besten!“) wurde die Dose geöffnet, aus dem Bild entfernt und man konnte die Mimik des Eingegrabenen beobachten, während er – wie der Zuschauer - den Schluckgeräuschen des Dosenöffners lauschte.

Ich fühle mich diesem Mann sehr nahe. Wandere betrübt in den Abendstunden an der stürmisch-pitturesken Küste Englands entlang und freue mich, dass sich hier das Pfandsystem noch nicht durchgesetzt hat. Denn so sende ich Flaschenpost um Flaschenpost. Rettet mich. Ich heiße ... und bin online-süchtig. Ich stecke mitten drin im Netz der Abhängigkeiten. Oder eben gerade nicht.

Wird unser Held den Sprung in den Kanal wagen und sich so in die vierstellige Euro-Zone retten können? Oder entführen ihn die Meerjungfrauen auf eine Odyssee in Meeren aus Dopamin und Serotonin? Wir werden es nie erfahren. Denn wir haben erst mal eine Menge abonnierter Blogs, die wir lesen und die wir kommentieren wollen ...


(c) 2010  verkomplizissimus

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