Sonntag, 28. August 2011

Haarige Angelegenheiten

 
Machen wir uns nichts vor: Die Zeiten ändern sich. Und das nicht nur beim Blick auf die Anzeige unserer Digitalchronometer oder dem Ziffernblatt der Bahnhofsuhr. Nein: Herbst ist der neue Sommer, Raider heißt jetzt Twix und eingekauft wird nur noch online. Da mutet es archaisch an, dass es noch immer Tätigkeiten gibt, die ganzen Körpereinsatz erfordern. Haareschneiden, zum Beispiel.

Ich denke, es war jene Äußerung dieser Frau auf dem Bahnsteig, mit der alles anfing. Gerade erst hatte mich die Liebe meines Lebens verlassen, die Frau, mit der ich Kinder zeugen, ein Haus auf einer einsamen Insel bauen und die aufregendsten Nächte meines Lebens verbringen wollte. Doch als ich sie nach ihrer Telefonnummer fragte, runzelte sie einfach nur die Stirn, drehte sich von mir fort und stöckelte von dannen. Vorbei an jener anderen Dame, die sich mir nun zuwandte. In ihren Bewegungen lag jenes aggressive Selbstbewußtsein einer Süßes witternden Septemberwespe. „Hey, ich mag Dich. Du siehst aus wie dieser Zauberer aus dem Fernsehen.“ Meine Hand zuckte zur Stirn, um unter dichtem Gewuschel nach der verräterischen Narbe zu suchen. „Wie hieß der noch?“, summte sie weiter, „Ach ja ... Catweazle ...“ Doch, ich glaube es war dieser Moment, in dem ich einen Entschluss fasste. Ich musste mir ernsthaft die Haare schneiden lassen.

Gemeinhin ist dies eine Problemlage, die mich eher selten trifft. Aus meinen alten Tagen als Schafscherer in Neuseeland habe ich mir einiges an Gerät erhalten, mit dem ich zum Behufe der Haupthaarverkürzung  dann selbst Hand anlege. Eines dieser Geräte funktioniert sogar elektrisch. Es gilt dann lediglich, die gewünschte Länge (verfügbar sind: zwölf, neun, sechs und null Millimeter) einzustellen und darauf zu achten, dass der Spannungsregler auch wirklich auf die Neuseeländischen 240 Volt und nicht die in zum Beispiel Surinam gebräuchlichen 127 Volt eingestellt ist. Sonst geschehen lustige Dinge.

Wie dem vorstehenden Gedanken zu entnehmen ist, gerät mein Leben in manchen Phasen immer wieder zu einer einzigen, logistischen Herausforderung. Und eine solche war es denn nun auch, die mich in den letzten Wochen hartnäckig von meinem Scherequipment getrennt hat. Das Schicksal und die Streikwilligkeit Deutscher Lokführer wollten es so. Verglichen mit Samson (dem biblischen, nicht diesem würstchenessenden Scheinbären aus der Sesamstraße, meine Güte) habe ich die Vorzüge wallender Haartracht allerdings nie wirklich nachvollziehen können. Wie mir erst kürzlich ein Würstchenglas nur zu deutlich vor Augen führte, dessen Vakuumverschluss den Fortbestand des Glasinhaltes erfolgreich zu verteidigen wusste. Damit das mit dem „vor Augen führen“ auch tatsächlich klappen konnte, musste ich allerdings zunächst die mir immer wieder ins Gesicht fallende Mähne zu einer Art Turmzopffrisur verdichten.

Mein Opa väterlicherseits war es, der mir seinerzeit einen jener großväterlichen Ratschläge erteilte: „Junge“, sagte er, „solltest Du Dir die Haare schneiden lassen wollen – egal wo Du auch sein mögest: gehe zum Hauptbahnhof. Dort gibt es Friseure, bei denen Du auch ohne Terminvereinbarung sofort bedient wirst. Die sind auf Laufkundschaft eingerichtet. Und da es immer mindestens drei Friseure gibt, die sich Konkurrenz machen, sind dort die Preise auch stets günstiger als anderswo.“ Da ich mich praktischer Weise ohnehin gerade auf dem Weg zu einem dieser Hauptbahnhöfe befand, beschloss ich, meinen ansonsten eher rebellisch veranlagten Widerspruchsgeist hintanzustellen und seinem ehedem gegebenen Rat zu folgen.

Nun ja. Es ist nicht immer schön, den modernen Wandel der Zeiten so deutlich anhand eigener Erfahrung nachvollziehen zu müssen. Vielleicht lag es ja auch an jener Nordrhein-Westfälischen Landeshauptstadt, deren Namen ich an dieser Stelle aus Diskretionsgründen lieber verschweigen möchte. Doch schon auf der Informationstafel des ameisenhaufengleichen Funktionsgebäudes mit Gleisanschluss ließ sich unter der Rubrik „F“ allenfalls noch der Begriff „Frittenbude“ (mit Verweis auf den Eintrag: „Schnellimbiss, siehe auch: Döner“) finden. Nun. Haha. Als gewiefter Marketingwortverdreher war dies natürlich noch lange nicht der Punkt, an dem ich aufgegeben hätte. Doch nein, auch unter den gesuchten Begriffen „Coiffeur“, „Hairstylist“, „Barbier-Studio“ oder sogar „Kopfgärtner“ fand ich keinerlei sachdienliche Hinweise. Es galt also, selbst die Haare in die Hand zu nehmen und laufend Ausschau zu halten.

Dieser Sommer hat nicht viele wirklich sommerliche Tage zu bieten gehabt. Es mag sich von selbst verstehen, dass der Tag, von dem ich hier berichte, einer war. Bald musste ich in einem schattigen Winkel Unterschlupf suchen, meinen gesäßlangen Pferdeschwanz auswringen und feststellen, dass es eben doch nicht für alles eine App gibt. Zumindest fand ich in keinem Store eine Anwendung, die mir jetzt – direkt aus dem Telefon – die gewünschte, kalte Kurzdusche bieten konnte. Da half auch keine Spielerei mit dem Vibrationsalarm. Bewegung erzeugt Wärme.

Ein Mangel an verschiedensten Angeboten, die deutlich zu einer Veränderung meines äußerlichen Eindrucks beigetragen hätten, war durchaus nicht zu beklagen. An drei Stellen hätte ich mir künstliche, mit Strass besetzte Fingernägel anbringen lassen können. Zu einem durchaus fairen Preis, wie ich fand. Auch hätte ich mich an quasi jeder beliebigen Stelle meines Körpers aufs Ausgiebigste tätowieren lassen können. Oder piercen. Auch branden. Mein Haar jedoch einfach abfackeln zu lassen, widerstrebte mir irgendwie.

Die weitere Suche in der Umgegend des Hauptbahnhofes brachte mir sogar noch die Bekanntschaft einiger interessanter Damen ein. Auch diese schienen um mein Wohlergehen aufs Äußerste besorgt zu sein und unterbreiteten mir Vorschläge, sich meiner auf ganz besondere Weise annehmen zu wollen. Was meist auch irgendwie etwas mit Besorgen zu tun hatte. Wovon sie so recht etwas verstünden. Ob meiner langen Haartracht offenbar das Opfer einer Verwechslung, wurde ich in dieser Gegend selbst auch von einigen Männern angesprochen. Es ist mitunter gar nicht so einfach, auch die fundamentalsten Missverständnisse ohne zu große Peinlichkeiten aufzuklären. So konnte das nicht weitergehen.

Ich wechselte meine Taktik. Und fragte jene Damen, ob nicht auch sie gerade vielleicht zufällig gewechselt hätten. Zum Beispiel aus dem Friseurfach zu dieser ... anderen Profession. Ich meine ... immerhin schien mir die nachhaltige Abwesenheit von Frisiersalons in dieser Stadt den Gedanken nahezulegen, dass vielleicht die Arbeitslosigkeit diese gefallenen, wenn sich mitunter auch recht grazil bewegenden Engel in ihr neues Gewerbe getrieben hatte. Uschi schließlich verstand genug Deutsch und Englisch, um mir auf meine Frage antworten zu können, ohne gleich mit weit aufgerissenen Augen einen horrenden Aufpreis zu verlangen. Sie rang mir das Versprechen ab, sofort nach Erledigung meiner Kopfarbeit zu ihr zurückzukehren und gab schließlich ihre Kenntnis hinsichtlich eines nur wenige Kilometer entfernten Herrenfriseurs preis. Ich steckte ihr einen Zehn-Euro-Schein zu, log sie an, dass ich natürlich wie der Wind zu ihr zurückeilen würde und drehte mich an der nächsten Straßenecke sogar noch einmal um, um ihr zuzuwinken. Sie winkte aus der Entfernung mit meiner Brieftasche zurück und verschwand in einem Hauseingang. Ich habe beide niemals wiedergesehen.

Man soll ja sein Herz nicht an irdische Güter hängen. Geld ist eine Illusion und es gibt Wichtigeres im Leben. Haare schneiden, zum Beispiel. Immer wieder über die Ausläufer meiner Zöpfe stolpernd, tänzelte ich voran und versuchte dabei, vermittels meines Telefons wenigstens die wichtigsten Kreditkarten sperren zu lassen. Schwindende Elektrizität machte mir hier einen Strich durch die Rechnung, aber gleich, wenn ich in der Frisierstube sitzen würde, konnte ich meinen Akku ja wieder an der Steckdose aufladen. So dachte ich es mir. Und – tatsächlich: nach kaum einer Stunde und einer Vielzahl interessanter, geradezu wegweisender Unterhaltungen stand ich vor der schlichten Glastür eines Haarschneiders. So verkündete es das Schild, das von innen an die Tür geheftet sanft im Wind der Klimaanlage schaukelte. Doch noch mehr stand dort zu lesen. Zum Beispiel die Erklärung dafür, warum sich die Tür so hartnäckig meinen Öffnungsversuchen widersetzte wie vor einigen Tagen noch das Würstchenglas. „Montags geschlossen“.

„Am Mondach sünn hüg alle in de Berufsschoole!“, tönte es mir fröhlich vom Cafétisch nebenan entgegen. Aha. Ich möchte jetzt nicht direkt als Bildungsfeindlich erscheinen, doch die spontane Äußerung meines Unmuts mag in diese Richtung gegangen sein. Wie egal es mir wohl sei, ob die Hand, die mein Haupthaar schert, zuvor noch Goethes Gedichte hielt oder an der Tafel Integralrechnungen verfehlte. „Ja - und der Chef? Muss der auch in die Schule?“, entfuhr es mir. „Nääh, Mondach habbisch frei, min Jong“, lachte es zurück.

Nein, es ist eine infame Lüge, dass ich in diesem Augenblick wimmernd vor diesem Mann zusammengebrochen wäre. Dass ich ihn bekniet hätte, bei mir Hand anzulegen. Von mir aus auch mit einer Scherbe der zerbrochenen Tasse, die mein Fall versehentlich vom Marmortischchen gerissen hatte. Ein Käfer wand sich in der kleinen Kaffeepfütze. Ich beneidete ihn. Käfer haben nur ganz, ganz kurze Härchen. Meistens am Bauch.

Nein, ich habe diese Situation gestanden wie ein Mann. Ich habe in meiner Hosentasche geforscht und ganze sieben Euro fünfunddreißig zu Tage befördert. Und ich habe mich auf den Weg in eine der naheliegenden, den Hauptbahnhof quasi umschäumenden Videotheken gemacht, um mir dort moralischen Beistand zu erheischen. Ich wollte mir das Musical „Hair“ kaufen. Und endgültig dem Berufsleben abschwören; einfach Hippie werden. Bestimmt würde ich diesen Film in einem dieser schummrigen Läden finden können. Immerhin kamen nackte Menschen darin vor.


Wird sich unser Held mit seinem Zopf in der Kassenrolle der Videothek verfangen und so sein unrühmliches Ende finden? Oder kann er seinem Schicksal noch einmal um Haaresbreite entgehen, einen Schluck vom hoch bleihaltigen, Düsseldorfer Leitungswasser nehmen und daraufhin für immer aller Frisur- und Zahnprobleme obledig sein? Wir werden es nie erfahren. Denn wir sind viel zu sehr damit beschäftigt, uns über die kleine Locke in unserer Hühnersuppe zu ärgern ...


(c) 2011 verkomplizissimus





12 Kommentare:

  1. Hähä ... der Text gewinnt eine zusätzlich komische Dimension, wenn man dich persönlich kennt ... ;-)))

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  2. Aha. Und dieser Kommentar gewönne zusätzliche Facetten, sofern ich ahnen könnte, wer ihn schrieb ... ;-)

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  3. Oh. Sie sind gewachsen. Seit neulich. Ihre Haare.
    Und ich muss sagen, es steht Ihnen. Wie gut, dass der Barbier, Coiffeur, Kopfbeschicker or what ever am Montag, wie fast Traditon ist, geschlossen hatte.
    Und eine Frage quält mich: Binden Sie sich das Haupthaar hoch, wenn Sie sich zur Ruhe betten? :)

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  4. Dem Vernehmen nach trägt der Held dieser Geschichte seit Kurzem eine jurtenähnliche Leichtholz- und Bambuskombination bei sich. Sofern ihn die Müdigkeit überkommt, ist jene schnell aufgeschlagen und das Haar darüber ausgebreitet. Das sorgt für regendichte Abdeckung und ein gemütliches Raumklima. Nur stellt es erhöhte Anforderungen an einen ruhigen Schlaf, denn zu häufiges Umdrehen ist ... problematisch. Da kann dann An- und Hochbinden wieder recht hilfreich sein.

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  5. Spiegeleier mir Vibrationsalarm,lach...

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  6. Persönlich brate ich hier nur Störche. Gespiegeleiert habe ich - zumindest bewusst - noch niemanden. Weder mit noch ohne Vibration. Klingt aber nicht uninteressant ... Anfragen bitte unter Chiffre ...

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  7. ... eine haarige Angelegenheit :-) bei der ich (wie immer ;-)!), lachend unter meinem Schreibtisch lag' ... lG, Die Hellwache :-)

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  8. Ups, diese Plattforn funktioniert ja auch eher "solala"?! Die Uhrzeit war/ist Murks, es ist 00.22 Uhr und der 31.08.! LG, DH :-)

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  9. Na, my Dear, dann musst Du die richtige Uhrzeit einstellen, denke ich ;)

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  10. Wie jener nachmittägliche Kommentar um kurz nach Mitternacht wunderschön zu belegen versteht ... ;-)

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  11. ... Schmunzel, naja, er ist Eure Plattform, ihr Zwei, ich bin hier nur Gast ;-)))!
    GlG, DH :-)

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  12. Sorry, ES ist ;-) (ich schreibe nie wieder Nachts Kommentare^^!)GlG, DH

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