Samstag, 17. Dezember 2011

Schicksalhaftes von Märkten und Wirtschaften


Wie jedes Jahr hat es auch in diesem wieder ein wenig gedauert, bis ich mich von meinem metaphysischen Schrecken erholte. Diesem Schrecken, mit dem ich meinte festzustellen, meine Realität sei zu einer Shakespeare-Inszenierung geraten. Doch was auch immer an meinen Händen klebte lässt sich abwaschen, keine Lady Macbeth säuselt mir giftigsüße Karrierepläne ins Ohr und all die Bäume, von denen ich meinte, sie stünden im Begriff die Stadt zu erobern, tragen rote Schleifchen und glitzernde Kugeln. Keine Tracht für eine grimmige Armee. Obwohl.

Die Welt scheint dieser Tage wohl geraten; vor allem aus ihren Fugen. Doch hier geht es nicht um diese so trefflich mathematisch schönen Kompositionen aus der Feder barocker Komponisten. Statt meiner Neigung zu eben jenen Rechnung zu tragen, trägt man musikalisch lieber vor. Meist öffentlich. Und dabei dann auch noch dick auf. Vor allem ge. Also – tragen. Quasi: Second Hand Musik. Ein wenig verwaschen und um die Erinnerung an Zeiten ringend, in denen Schlaghosen unten kleine Glöckchen trugen und Weihnachten etwas furchtbar Aufregendes war. Dabei ist es das durchaus immer noch. Doch ich will mich nicht aufregen.

Zum Beispiel darüber, dass es kaum noch möglich ist, irgendwo ein Schlückchen Wein oder Kaffee zu trinken, ohne auf eine feuchtbetrieblichfröhliche Weihnachtsfeier zu treffen. Und es eben nicht immer einfach ist, spontan einen Tisch für 36 Personen zu finden - möglichst im Hinterzimmer. Also weicht man auf die Märkte aus, die in den letzten Wochen – wohl zu ebenjenem Behufe - auf jedem öffentlichen Platz von mehr als zwei Quadratmeter Größe quasi wie von selbst aus dem Boden gewachsen sind. Tannenumkränzte Trutzburgen weihnachtlichen Frohsinns. Hier wird an Menschen, die unter normalen Umständen Weine, deren Namen man ohne Doktorwürde der Académie Française nicht lesen, geschweige denn aussprechen kann, keines Blickes würdigen, jetzt aufgewärmt Süffiges aus dem Tetrapack ausgeschenkt und jeder ist bereit, dafür auch noch ein kleines Vermögen hinzublättern; zuzüglich Becherpfand. Es ist schließlich bald Weihnachten. Und damit unumgänglich, irgendwann selbst in diesen Tannenbüschelstrudel eingesogen zu werden.

Schnell sind da die Sinne von porzellanfigürlichen Heerscharen mutmaßlicher Himmelsbewohner umzingelt, deren durchweg geflügelte, mal Harfe, mal Trompete spielende, zuweilen auch kerzentragende Darstellung dabei in meinem ästhetischen Wertesystem viel eher dem Konzept ewiger Verdammnis nahe kommt. Doch gerade in dieser Zeit möchte ich über Geschmack nicht streiten: schließlich gibt auch der geschäftliche Erfolg dieser Ansammlungen von Fröhlichkeitsverkündendern altrosaner bis himmelblauer Färbung recht. Das ist wie mit den Einschaltquoten für Sendungen wie „Mitten im Leben“ oder „Familien im Brennpunkt“ ... Mehrheiten können sich nicht irren und finden auch hier ihren sichtbaren Ausdruck. In wie vor der Auslage. Also verzichte ich darauf, an diesen Ständen unter Zuhilfenahme eines langen Tannenzweiges jene kontemplative, optische Stille herzustellen, die ich an manchen protestantischen Sakralbauten so sehr mag. Lieber wende ich mich anderen Dingen zu. Viel anderes bleibt mir ohnehin nicht übrig: längst hat mich die amorphe Masse Weihnachtswütiger völlig erfasst und trägt mich mit sich fort.

Das nun folgende Phänomen läuft nach etwa den gleichen Prinzipien ab wie die sagenumwobene „Wall of Death“, die sonst von eher unfriedlichen Zeitgenossen im Rahmen ausgelassener, schwermetallener Rockkonzerte zur Aufführung gebracht wird. Zuweilen auf Geheiß der fröhlichen Musikanten auf der Bühne, manchmal aber auch einfach selbstorganisiert nehmen dabei zwei oder mehr Hälften des Publikums - mit etwas Platz dazwischen - gegenüber von einander Aufstellung, um dann unter großem Hallo aufeinander zuzustürmen, bis sie im vollen Lauf aufeinander treffen. Mittlerweile ist diese Spielart des Pogo auf Rockkonzerten amtlicherseits untersagt, weil sie nur allzu oft ihrem Namen im anschließenden Gedränge, bei dem man Extremitäten, Kleidungsreste und Zahnfragmente auseinander sortiert, alle Ehre machte. Auf deutschen Weihnachtsmärkten bleibt dieses Spiel hingegen gängige Praxis, auch wenn es zumeist stark verlangsamt, also sozusagen in Zeitlupe abläuft. Und selten Platz genug ist, wirklich eine Gasse zwischen den gegeneinander drängenden Massen zu bilden. Wahrscheinlich deshalb blieb dieses Treiben bislang von den meisten Ordnungshütern unbemerkt. Und die wenigen, die dann doch Notiz davon nahmen, sind viel zu eingeklemmt, um an ihr Funkgerät zu gelangen und um Hilfe röcheln zu können. Es sollen schon Menschen auf Weihnachtsmärkten deshalb bei Regen ertrunken sein: das Wasser fand schulterabwärts einfach keine Gelegenheit mehr, abzulaufen. Und stieg so schnell allen erst zu, dann letztlich über den Kopf. Vielleicht war es auch Glühwein. Wer will das schon so genau wissen.

Drangvolle Enge hat ihre Vor- und ihre Nachteile. Ohne sie wäre mancher rechtschaffende Taschendieb ganz um sein karges Einkommen betrogen, mancher Lustmolch um seine spärlichen Momente erotischen Wohlbefindens gebracht und hätte der Orthopäde, bei dem ich anschließend  meine gebrochenen Zehen eingipsen lassen muss, viel weniger zu lachen. Auf jeden Fall kommt man so mit fremden Menschen nicht nur schnell ins Gespräch, sondern auch gleich darüber hinaus in engen Körperkontakt. Vergessen sie alles, was sie jemals über Speed-Dating oder Engtanzfeten gehört oder gelesen haben. Ich sage Ihnen: Weihnachtsmärkte ...

Ich bin ja eher kein Anhänger der Meinung, dass Alkohol allgemein den Flirterfolg fördert; vor allem nicht, wenn man ihn sich selber zuführt. Auf der anderen Seite sind manche Verletzungen intimer Privatsphäre und Angriffe gehörter, gerochener, gesehener, gefühlter oder geschmeckter Wahrnehmung der einen auf Weihnachtsmärkten umgebenden Welt in nüchternem Zustand nur schwer zu ertragen. Der vielbeschworenen Be-Sinnlichkeit der Vorweihnachtszeit steht die überwiegende B-Qualität der gelieferten Sinneseindrücke feindlich gegenüber. Doch wie so manche B-Movies genießen diese traditionell und mitunter nicht nur im sprichwörtlichen Sinne bis zum Erbrechen wiederholten Erfahrungen bei manchen Menschen echten Kultstatus. Ich halte mich da an Kaffee. Und an der Säule fest, welche der Kaffeestand unschuldig in Not geratenen Passanten gleich einer Rettungsinsel zur Verfügung stellt.

Und jeder, der sich je um vier Uhr Morgens wurmbewaffnet und angelgerüstet auf den Weg gemacht oder bis vier Uhr morgens, den Blick starr und auf der Suche nach Sternschnuppen gen Himmel gerichtet, auf einer kühlklammen Sommerwiese ausgeharrt hat, kennt diese meditative Ruhe, die aus nichts anderem als aus einer tiefen Gewissheit heraus erwächst: Irgendwann passiert es dann. Und es verfängt sich ein Wollschal, ein Seidentuch oder eine kleine, zarte Hand zwischen Wintermantel, Holzleiste und Tannenbaum und das Schicksal spült eine nette Begegnung auf die linke, große Zehe. Und hier kommt dann nicht nur der schmerzende Fuß, sonder auch der wahre Vorteil eines Weihnachtsmarktes zum Tragen: der so Herangetragenen fällt es gar nicht so leicht, sich diesem zwangsweigerlich entstandenen Anlächeln zu entziehen. Anders als in freier Wildbahn, auf haiumzingelten Südsee-Eilanden oder im Rahmen sechsmonatiger Expeditionen durch die Antarktis sind die Entkommensmöglichkeiten weiblicher Wesen auf Weihnachtsmärkten überaus begrenzt. So bleibt denn immerhin genug Gelegenheit davon zu überzeugen, dass bärtige Männer meiner Statur auch für Damen im Alter von mehr als sechs Jahren interessant sein können, selbst wenn sie keine rote Flauschmütze tragen und Schokoladenlollies aus ihrem Jutesack zaubern können. Ob nun mit Glühwein oder ohne. Hach. Wie schön ist doch die Weihnachtszeit ...

Wird unser Held nun endlich seine Lady Macbeth im Gewirr der Tannenzweige finden? Oder sollte ihm, der sich immer noch verzweifelt an den Vordachpfosten eines Kaffeeausschankes klammert mal jemand sagen, dass der Weihnachtsmarkt schon vor vier Stunden geschlossen hat und mittlerweile wirklich alle Menschen verschwunden sind und Porzellanengel abgedeckt wurden? Wir werden es nie erfahren. Denn wir leiden noch immer unter einer schicksalhaften Begegnung mit der heißesten und verführerischsten Blaubeerbowle aller Zeiten ...

(c) 2011 verkomplizissimus

1 Kommentar:

  1. Nach dem Lesen des Blogs wollte ich einem ersten Impuls folgend schreiben, dass ich diese übervollen Weihnachtsmärkte auch nicht mag...aber das stimmt gar nicht. Ganz im Gegenteil. Ich liebe sie. Den Duft nach gebrannten Mandeln, nach kandierten Äpfeln, Mutzen, Zuckerwatte, Bratwurst, Waffeln, Glühwein, heißem Kakao, Eierpunsch. Die sich ständig wiederholenden Weihnachtslieder, die geschmückten und im Lichterglanz erstrahlenden Tannenbäume, die noch strahlenderen Kinderaugen... Und... dem stattlichen, vollbärtigen, weise blickenden, mild lächelnden Herren am Kaffeeausschrank werde ich ja vielleicht bald einmal begegnen... hohoho

    Ein frohes Fest allen...

    LG KF

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