Donnerstag, 9. Juni 2011

Der Gandhi-Ansatz

So lange ist es noch gar nicht her, da ist es einem großen, kleinen Mann gelungen, einen ganzen Sub-Kontinent gewaltfrei vom kolonialistischen Joch zu befreien. Als probates Mittel in diesem Zusammenhang erwies sich vor allem der öffentliche Hungerstreik. Ich finde diesen Ansatz sympathisch und erwäge, ihm nachzueifern. Zumal in diesen Tagen. Schließlich ist es dann am Ende doch einigermaßen beruhigend zu wissen, woran man letztendlich gestorben ist.

Nicht erst seit ich durch direktimportierte Nashi (Pyrus pyrifolia) meine Nachttischlampe ersetzen und so eine Menge Atomstrom sparen konnte (schließlich leuchten die nachts so stark, dass es zum Lesen gerade ausreicht), setze ich mich mit Lebensmitteln auseinander. Sie auf der einen, ich auf der anderen Seite des Tisches. Mitunter nur durch Glas, manches andere Mal durch fein ziselierte Bleiplatten getrennt. Statt mit Messer und Gabel ertappe ich mich immer wieder dabei, mich dem, von dem ich mich ernähren soll, mit Geigerzähler, Petrischale und Mikroskop zu nähern. Quod me nutrit, me destruit. Nie war dieser Satz aktueller als heute.

Mancher Verzicht fällt mir eher leicht. Seit mir bewusst gemacht wurde, dass es 14 Kilogramm Getreide braucht, um ein Kilo Rindfleisch wachsen zu lassen, ja, für die gleiche Menge Schweinefleisch sogar bis zu 60 Kilogramm Mais aufzuwenden sind, erfreue ich mich lieber am lustigen Spiel der Ferkel in Amerikanischen Kinderfilmen als an blutigen Überresten toter Tiere auf meinem Teller. Für die „Herstellung“ ein halben Kilos Rindfleisch werden etwa 6.810 Liter Wasser verbraucht, für einen Burger von 150 Gramm immerhin 2.500 Liter. Ein halbes Kilo Kartoffeln ist dagegen schon für 450 Liter Wassereinsatz „zu haben“. Nur bei besonders hartnäckigen Erkältungskrankheiten greife dann auch ich einmal zum Schnitzel: um mir den Gang in die Apotheke zu ersparen. Allerdings sind Krustentiere, vor allem aus Asiatischen Regionen eingeführt, oder auch handelsübliche Lachserzeugnisse noch um einiges effektiver, da hier die Ratio zwischen Eiweiß und Antibiotikum noch vorteilhafter für kurzfristige Genesungsanliegen ausfällt.

Ausfälle sind natürlich nie ganz auszuschließen. Der Nachweis polychlorierter Kohlenwasserstoffe in meinen Frühstückseiern, eigens von mir unter Verbrennung mehrerer Liter Otto-Kraftstoff vom Biohof geholt, ließ zum Beispiel mich ausfallend werden. Da konnte mich dann auch der Hinweis, die Eier seien schließlich aufgrund der durch PCB-Einwirkung immer dünner werdenden Schale heutzutage viel einfacher zu schälen, nicht mehr wirklich ruhiger werden. Ruhiger machen mich andere Dinge. Zum Beispiel das Leitungswasser meiner Heimatstadt, das nach letzen Messungen eine fein ausgewogene Mischung aus Tranquilizern und Anti-Depressiva in an sich verschreibungspflichtiger Konzentration enthält. Und das fast gratis und ganz ohne Rezept. Da soll noch einmal jemand behaupten, die Politik hätte keine Rezepte mehr gegen die allgemein um sich greifende Niedergeschlagenheit.

Tatsächlich umgehauen hat mich aber nun anderes. Und das sind die Auswirkungen der Hysterie, die in immer neuen Wellen die Menschen um mich herum erfasst. Ich meine – bei so einem Bakterium, da handelt es sich immerhin noch im weitesten Sinne um Biomasse. Und die kann – ganz anders, als all die Furane, Dioxine und Schwermetalle, die wir jeden Tag durch Essen und Trinken so zu uns nehmen - immerhin noch in vielen Fällen erfolgreich verdaut und einfach ausgeschieden werden. Vor allem letzteres funktioniert ja – wenn man den Presseberichten zum Symptomverlauf folgt – relativ umfassend. Doch. Nein – hier liegt ja jetzt: eine akute Gefährdung vor. Anders als bei Ausläufern der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (in Form dargereichten Rindersteaks eher unter der Bezeichnung „BSE“ bekannt), treten die Folgen sofort und sichtbar ein. Zumindest in den Nachrichten. Und beim Rinderwahnsinn beträgt die Inkubationszeit immerhin bis zu 35 Jahre. Da bleibt es zweifelhaft, ob ein so gesegnetes Alter hinsichtlich der bedrohlichen Ernährungssituation überhaupt noch zu erreichen ist.

Doch Anderes wurde erreicht. Zum Beispiel hat man mich von meinen Hauptnahrungsquellen schlichtweg abgeschnitten. Ich wäre ja durchaus bereit, dem Schicksal trotzig die Stirn zu bieten – nur: man lässt mich ja gar nicht mehr. Die Auslagen in den Gemüseabteilungen bieten allenfalls noch hier und da ein paar einsam dahinwehende Spinnweben. Und es ist gar nicht so einfach, diese vor dem Verzehr so gründlich abzuspülen, wie es überall empfohlen wird. Gestern konnte ich immerhin noch im Gemüsegarten eines Nachbargrundstücks ein paar Radieschen klauen und so den ersten Symptomen des beginnenden Skorbut entgegenwirken. Auch die Blütenblätter des Hahnenfussgewächses (Ranunculus ficaria), nach dem jene Krankheit ursprünglich einmal benannt wurde, enthalten eine hohe Dosis an Vitamin C. Wenn man denn die Pestizide in Kauf nehmen mag, die städtische Ordnungsämter fleißig auf das aufbringen, was im Behördendeutsch als „standortgerechte Spontanvegetation“ bezeichnet wird.

Fast mag man rufen: „Ätschibätsch“. Schließlich waren doch auch Sie sicher unter den Millionen von Endverbrauchern, die sich mit Eingaben an die Futtermittelindustrie gewandt haben. Um diese davon zu überzeugen, dass sich Rindfleisch viel schneller und billiger „produzieren“ lässt, wenn man geriebene Schafskadaver an die öden und blöden Grasfresser verfüttert. Und Hühner viel fetter werden, wenn man ihrem Futter Fett direkt beimischt. Und seien es die Abfälle aus der Schmiermittelproduktion. Wo gehobelt wird, fallen ja schließlich auch Späne. Wie – Sie waren es auch nicht? Mit diesen Vorschlägen? Hm. Wer denn dann bloß? Seit der Verfilmung des Romans „New York 1999“ unter Mitwirkung von Charlton Heston und unter dem Titel „Soylent Green“ in die Kinos gekommen, war industrielle Nahrungsmittelproduktion in der Phantasie der Menschen nicht mehr so einfallsreich. Und wird doch immer wieder von der heutigen Realität um Längen überholt.

Die herrscherische Willkür der Englischen Kolonialherren gegenüber den Völkern Indiens war jeden Tag spürbar. Wir räkeln uns derweil als Frösche im lauwarmen Wasser. Wirft man eine solche Amphibie in einen Topf sprudelnd kochender Flüssigkeit, wird sie sofort wieder herausspringen. Erhöht man hingegen die Temperatur in kleinen Schritten, bleibt sie so lange sitzen, bis sie vollkommen zerkocht (liebe Kinder: bitte nicht selbst ausprobieren. Es gibt doch nur noch so wenig Frösche). Die kochende Wut, die mich immer wieder überkommen mag, wenn ich mir Zusammenhänge vor Augen führe, macht es schwer, dem gewaltfreien Ansatz des „Satyagraha“ Gandhis zu folgen. Eher bekomme ich bei diesem Wort schon wieder Appetit auf Indisches Essen. Sprosse für Sprosse die Leiter des Vergessens hinauf.

Das Dumme an meinem protestgeborenen Hungerstreik ist der beinahe vollkommene Mangel an Öffentlichkeit. Abgesehen von meiner lieb und teuer gewordenen Änderungsschneiderei, die in regelmäßigen Abständen große Stücke Stoff aus meinen Kleidungsstücken entfernt, damit sie mich bei aufkommenden Sommerbrisen nicht immer wieder davonsegeln lassen, bleibt die Anteilnahme der umgebenden Menschen begrenzt. Jeder pflegt seinen eigenen Ärger und seine eigenen Sorgen. Wie mein Nachbar zum Beispiel, der verzweifelte Jagd auf virtuelle Maulwürfe macht. Weil die immer seine Radieschen wegfressen. 

Folgen wir also dem gewaltfreien Weg Gandhis und halten beharrlich an der Wahrheit fest. Dafür nämlich steht „Satyagraha“. Das ist die Waffe der geistig Starken, um an das Gewissen und die Einsicht des Gegners zu appellieren. Geld kann doch am Ende des Tages nicht mächtiger sein als Moral und Menschlichkeit. Was wäre denn das für eine Welt. Und immerhin: scheinbar zeigen sich ja schon erste Erfolge. Werden doch Nahrungsmittel wie Weizen, Gerste und Mais in großem Stil vernichtet. Um damit Biogasanlagen zu betreiben. Und was dann bei der Stromerzeugung  so übrig bleibt, das mag man dann gern wieder auf die Felder kippen und an die Tiere verfüttern. Wir werden es schon essen. Wetten?


Wird unser Held nun am Ende der Radieschensaison vom Skorbut dahingerafft werden? Oder sollte er schon vorher den Folgen seines Protesthungerstreiks erliegen? Wir werden es nie erfahren. Denn wir sehen uns gerade mit ganz anderen Resten der Stromerzeugung konfrontiert, die uns den Weg in eine strahlende Zukunft weisen ...

(c) 2011 verkomplizissimus

2 Kommentare:

  1. Wie kann man so herzlos sein und Blumen essen ... ;-)

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  2. Jetzt habe ich gleich noch einen Grund mehr, über die heutige Aufhebung der Warnung vor Gemüse erleichtert zu sein. Schließlich möchte ich noch viel mehr von "unserem Helden" lesen!

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