Mittwoch, 22. Juni 2011

Alles Gute stompt von oben


Was sich die Menschen nicht alles für Stress machen. Mit Hauptmietern, Nebenmietern, Untermietern ... mir fehlte dafür immer das rechte Verständnis. Bis ich unfreiwillig die letzte, im eben genannten Portfolio noch offene Option am eigenen Leib erfahren durfte. Oder vielmehr: erlaufen. Denn in die über mir freistehende Wohnung ist endlich jemand eingezogen. Und jetzt fehlt mir sogar auch noch das linke Verständnis.

Mit dem Verstehen ist das ohnehin so eine Sache, in letzter Zeit. Denn wie schon am Tag des Einzuges eifriges Möbelrücken bis in die späteren Morgenstunden des Folgetages hinein bewies, war es wohl gar nicht so leicht, sich für eine überzeugende Anordnung selbiger zu entscheiden. Möbel, nicht Tage – die bringen ihre eigene Anordnung automatisch mit. Folglich also wurde die Entscheidung über die angemessene Aufstellung einfach offengelassen. Und wurden fürderhin mehrmals am Tag neue Kombinationsmöglichkeiten ausprobiert. Stundenlang. Immer wieder alles neu arrangiert. Was mich wiederum eher derangierte. Doch. Dies sind die eher harmlosen Begleiterscheinungen, die sich ergeben, sobald man unter Menschen wohnt. Oder es zumindest versucht.

Der Legende nach hat Karl Marx seinem Bartfreund Friedrich Engels (von Erotik verstehen viele Strömungen der Linken nichts) die Gesamtausgabe des „Kapitals“ nicht nur in drei Bänden, sondern auch in ständigem Auf- und Abgehen diktiert. In einem Moskauer Museum soll sogar der Teppich ausgestellt sein, den er dabei durchgelaufen hat. Ob jene, die ihn knüpften, bereits die Volljährigkeit erreicht hatten und gerecht entlohnt wurden, ist nicht überliefert. Doch ich schweife ab. Denn den Aktivitäten nach zu urteilen, die sich seit Neuestem über mir abspielen, steht zu vermuten, dass uns demnächst eine profunde Fortsetzung ins Haus steht. „Das Kapital IV – Die Imperialisten schlagen zurück“ ... oder so ähnlich. Zumindest dem Laufpensum nach bleibt dabei offen, ob die ehedem schlank gewählte Form von insgesamt nur drei Bänden dieses Mal ausreichen wird. Wer sich ein wenig mit dem Schaffen von George Lucas auseinandergesetzt hat, kennt meine schlimmeren Befürchtungen. Die schlimmsten noch nicht. Die kamen erst später.

Der mehr als deutlich weibliche Name am neuesten Klingelschild der Tafel neben der Hauseingangstür (gegen welche das zentrale Schaltpult der Reaktorsteuerung von Fukushima wirken mag wie ein Flaschenöffner im Vergleich mit der ihn notwendig machenden Abfüllanlage) deutet dem eingeweihten Leser bereits an, was sich da ebenso bahnt. Denn ich hegte mittlerweile den strengen Verdacht, dass meine Übermieterin weniger politisch umwälzende Bücher ersann, als vielmehr für den Laufsteg zu proben. Oder für einen Werbespot. Für holländischen Käse, wahrscheinlich. Denn was sie dabei an den Füßen trug: das konnten nur diese schweren, handgeschnitzen, massivhölzernen Klompen sein. Mit dem ungefähren Klangvolumen eines leergepumpten Supertankers. Hätten die steten Vibrationen sich allein darauf beschränkt, mein Geschirr im Schrank zu zertrümmern – wie leicht ist das noch zu verschmerzen gewesen. Ich mochte es ohnehin nie wirklich gut leiden. Doch dass unter der massiven Einwirkung der Schallwellen von oben der Luftdruck in meinem Zimmer andauernden Schwankungen unterworfen war, hat schließlich vor allem meinen Zimmerpflanzen weniger gefallen. Sie gingen ein und ich die Wände hoch. Auch wenn die Schallwellen mich immer wieder hinuntertrieben.

Ich bin ein Mensch, der dazu neigt, nicht vorschnell zu urteilen. Gern lasse ich andere Menschen auf mich zukommen, ohne mir gleich ein festes Bild von ihnen machen zu müssen. Jedem will ich die Chance geben, zu sein, wie er eben ist und ihn auch genau so wahrzunehmen. Die in der eigenen Vorstellung gebildeten Filter sind oft im Nachhinein nur noch schwer zu überwinden. Besonders Äußerlichkeiten werden dabei meist überschätzt. Doch war es einer meiner raren Freunde, der mir, kurz bevor er das durch die lauten Stampfgeräusche unmöglich gewordene Telephonat abbrach, noch schnell den Hinweis auf den Disney-Film „Fantasia“ zubrüllte. Seither bekam ich dieses Bild eines über mir im rosa Tutu vor sich hintanzendes Nilpferdes nicht mehr aus meinem Kopf.

Es mag eben dieses Bild gewesen sein, das mich letztendlich auch von der Idee mit den mutmaßlichen Laufproben für den Catwalk abbrachte. Wer je eine Katze laufen gehört hat – dem glaube man zunächst einmal nicht. Denn Katzen verstehen es, sich vollkommen geräuschlos zu bewegen. Und das mit nahezu sprichwörtlicher Eleganz. In sanften, fließenden Bewegungen schweben sie über den Boden, um einen dabei von Zeit zu Zeit genauso wohlwollend wie herablassend anzublinzeln. Ich mag Katzen. Derzeit würde es keine bei mir aushalten. Das Gehör einer Katze umfasst 10,5 Oktaven und übertrifft den Hörsinn des Menschen damit um ein Vielfaches. Selbst im Tiefschlaf nehmen Katzen feinste Geräusche wahr. Wobei ich ihnen dahingehend in meinen verzweifelten Tiefschlafversuchen der letzten Zeit wohl nur um Weniges nachstand. Auch, wenn die mich umgebenden Geräusche zumeist – zugegeben – alles andere als fein waren. Von besonderer Durchdringlichkeit haben sich zum Beispiel die scheinbar gerade erst erworbenen Stöckelschuhe erwiesen. Die wollen schließlich eingelaufen werden. Und das werden sie. Direkt auf meinen freiliegenden Nervenbahnen. Auf. Und ab.

Letztendlich blieb in diesen Nächten so manches Mal kein anderes Mittel als die Flucht. Lang ausgedehnte Spaziergänge durch die zwischen zwei und sechs Uhr morgens zumeist ausgestorbenen Straßenzüge der Nachbarschaft brachten Linderung und manche neue Bekanntschaft. Zum Beispiel mit den netten Jungs der Bürgerwache und den Polizeistreifen, die sich aber mittlerweile weitestgehend an meine nächtlichen Streifzüge gewöhnt haben. In den frühen Morgenstunden kehre ich dann meist Heim, um vor der Arbeit noch ein paar Minuten Schlaf zu ergattern. Ganz leise schleiche ich mich ins Haus, um meine Nachbarin von oben nicht aus Versehen zu wecken. Darauf reagiert sie nämlich mit genau so nervösem wie ausgiebigem Hin- und Herlaufen. So dass ich gleich wieder hinunter auf die Straße kann. Um dann später noch einmal wieder zu kommen.

Und so komme ich dann auch jetzt wieder zurück. Auf meine Befürchtungen, nämlich. Genauer gesagt: auf die schlimmsten; die standen ja noch aus. Man mag sich meine Empfindungen und Gedanken ausmalen, die mich in dem Augenblick erfassten, als ich aus dem zum neuen Klingelschild gehörenden Briefkasten den Werbekatalog einer ortsansässigen Flamenco-Schule herausragen sah. Zu meinem chronischen Schlafentzug hinzuaddiert war dieser Moment einfach ein bisschen zu viel für mich. Wieder zu mir gekommen bin ich durch die zarte Berührung einer Hand auf meiner Schulter und die besorgte Frage, ob alles mit mir in Ordnung sei. Ich konnte nur verhalten nicken, denn beim Anblick der zu Berührung und Frage gehörenden Erscheinung hatte es mir schlichtweg die Sprache verschlagen. Hatte ich die Mühsal und Plage meiner irdischen Existenz endgültig von mir abgeworfen? War dies ein Engel? „Ich bin gerade erst hier eingezogen; ich glaube, wir haben uns noch nicht getroffen ...“

Meinem Kopf war sämtliches Blut entzogen, um sich in anderen Gegenden meines Körpers zu sammeln. In der Brust, in der Herzgegend, um genau zu sein. Keine Ahnung, was Sie schon wieder vermutet haben. Langsam richtete ich mich vollständig auf. „Willkommen ...“, das war wohl so ziemlich das einzige, was ich über meine Lippen brachte. Und ein munter originell eloquentes: „Geht schon wieder ...“. Mit einem Lächeln wandte sie sich von mir ab und dem strahlenden Frühsommertag vor der Haustür zu. „Gewiss treffen wir uns ja bald einmal wieder!“, rief sie mir noch im Gehen zu. Oh ja, konnte ich nur denken. Oh. Ja.

Das war heute Morgen. Seitdem sitze ich an meinem Schreibtisch und verfasse eine Eingabe an die Hausverwaltung. Empöre mich über die schluderige Bauweise dieses Hauses, in welchem ja scheinbar nicht einmal eine Bettfeder zu Boden fallen könne, ohne dass sich Risse in den Kellerwänden bilden. Außerdem erkundige ich mich vorsichtig, ob nicht vielleicht - ganz zufällig - gerade eine Wohnung zwei Etagen über meiner frei geworden wäre. Ich gebe zu, dass ich schon recht lange an diesem Brief herumformuliere. Denn eigentlich warte ich nur auf das zurückkehrende, vertraute, anheimelnde Geräusch tänzelnder Schrittchen über mir. Habe ich schon eine feine Flasche Rotwein bereit gestellt, um mich noch einmal in aller Form bei dieser reizenden, neuen Mitbewohnerin einzuführen. Nachher gehe ich zu ihr. Und - wer weiß: vielleicht hat sich dann ja auch meine Anfrage bei der Hausverwaltung schon von selbst erledigt. Wenn wir sowieso bald zusammenziehen ...


Wird die nachweislich schwache Zimmerdecke den strukturellen Erschütterungen mutmaßlich bald herunterfallender Tröpfchen (Rotweintröpfchen, wie ich betonen möchte!) standhalten? Oder wird unser Held endlich den lange fälligen Nachweis erbringen können, dass Liebe nicht nur blind, sondern manchmal auch beinahe taub machen kann? Wir werden es nie erfahren. Denn wir sind viel zu sehr damit beschäftigt, unsere eigene Übermieterin davon zu überzeugen, dass Yoga-Übungen viel besser geeignet sind das karmische Konto aufzuladen als Stepptanzen ...


(c) 2011  verkomplizissimus

1 Kommentar:

  1. Freu dich doch lieber, daß sie nicht Basketball spielt - und zuhause trainiert ... ;-)

    http://www.youtube.com/watch?v=zYXUm8GgPjE

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